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Giacomo Scinardo: Modest Mussorgsky – Complete Piano Works

Für mich ist Modest Petrowitsch Mussorgsky (1839–1881) der aufregendste und modernste russische Komponist des 19. Jahrhunderts. Leider zerstörte seine jahrelange schwere Alkoholabhängigkeit Stück für Stück sein überbordendes Talent. Vieles Geniale in seiner Musik blieb fragmentarisch, wurde nie zu Ende gedacht und oft genug von wohlmeinenden, aber eben andersdenkenden Komponistenfreunden (in erster Linie Nikolai Rimski-Korsakow) „zu Ende komponiert“ und „bereinigt“. Ich frage mich, welche Großtaten er noch vollbracht hätte, wäre er nicht verarmt und zunehmend durch die Alkoholsucht zerfallen. Oder spiegelt die Tragik seiner Vita sich in seiner Musik wider, sodass sie ohne dieses Unglück nicht entstanden wäre? Vielleicht passt das Fragmentarische, das ewig Unfertige seiner Musik, einfach nur gut in unsere postmodernen Zeiten.

Niemand kennt die Antworten auf diese Fragen. Fakt ist: In den wenigen (fast) vollendeten Werken Mussorgskys ist eine Klangsprache zu erkennen, die weit über die russisch-nationalistische Idee des „Mächtigen Häufleins“ hinausreicht und die bis in die Gegenwart nachwirkt. Seine „Bilder einer Ausstellung“ gehören zum festen Kanon der Klaviermusik und haben in unzähligen Bearbeitungen nicht nur den Sprung ins Konzerthaus geschafft (vor allem durch die Orchestrierung Ravels), sondern haben auch im Jazz (Allyn Ferguson), der Rockmusik (Emerson, Lake & Palmer) und der elektronischen Musik (Isao Tomita) eine Heimat gefunden. Solche Transformationen kennt man sonst nur von der Musik Bachs und (zumindest ansatzweise) Beethovens. Offenbar sind Mussorgskys „Bilder“ zeitlos aktuell. Aber wie steht es um seine übrige Klaviermusik?

Der italienische Pianist Giacomo Scinardo hat für das renommierte italienische Label Dynamic nicht nur die „Bilder einer Ausstellung“, sondern (endlich traut sich mal einer!) sämtliche Klavierwerke Mussorgskys aufgenommen. Das Œuvre erweist sich, von einigen frühen hochromantischen Jugendwerken (etwa der „Polka Porte-enseigne“ von 1852, dem „Souvenir d’enfance“ von 1857 und dem „Scherzo“ von 1858) abgesehen, als erstaunlich einheitlich. Spätestens in den nach 1870 entstandenen Arbeiten (in deren Zentrum die „Bilder einer Ausstellung“ von 1874 stehen), sprechen die Miniaturen die hinlänglich bekannte Klangsprache des Russen. Statt Harmonie und Symmetrie neigte Modest Petrowitsch zu einem nicht selten wilden, ungezügelten Realismus mit zahlreichen unvorhersehbaren Tempi- und Modiwechseln. Auffallend sind auch die immer wiederkehrenden Themenbereiche Kindheit („Souvenir d’enfance“, „Ein Kinderscherz“, „Kindheitserinnerungen“) und Heimat („Am Südufer der Krim“, „Der Jahrmarkt von Soroschintsy“, „Im Dorf“).

Scinardo spielt Mussorgskys Klavierwerk mit großer Sorgfalt und Einsicht. Selbst den hinlänglich bekannten Promenaden der „Bilder“ kann er etwas Frisches, Unmittelbares abgewinnen. Das impulsiv Aufbrausende in Mussorgskys Musik, das mal tragisches Drama, mal schiere Lebensfreude bedeuten kann, spielt er mit großer Überzeugungskraft; ebenso ausdrucksstark gelingen ihm die leisen, lyrischen und melancholischen Momente.

Der aus Catania auf Sizilien stammende Giacomo Scinardo (Jahrgang 1983) hat in seiner bisherigen Karriere den Schwerpunkt auf Auftritte rund um den Globus gelegt, von Bangkok über Moskau bis nach Detroit. Mit seinem erst zweiten Album (sein Debüt „Evolution“ mit Werken von Mozart, Bach-Busoni, Brahms und Prokofjew erschien 2014) unterstreicht er, dass er nicht nur bemerkenswerte Qualitäten auf der Bühne besitzt, sondern auch als akribischer, musikwissenschaftlich agierender Interpret zu überzeugen weiß. Nicht nur wegen der Vollständigkeit des Klavierwerks, sondern auch wegen des hohen Niveaus ist dieses Album eine wichtige, längst überfällige Bereicherung für die Mussorgsky-Diskografie.

Published inAlben vorgestellt

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