Das Kernrepertoire von Dmitri Schostakowitsch besteht aus seinen 15 Sinfonien, den 15 Streichquartetten, der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, den 24 Präludien und Fugen für Klavier solo, einigen kammermusikalischen Einzelwerken, einigen Ballettmusiken und den sechs Konzerten, jeweils zwei für Klavier, Violine und Cello. Wie viele andere Werke im Œuvre des Petersburger Komponisten sind die Konzerte zum einen eng mit ihren Widmungsträgern (sofern vorhanden) verbunden – Maxim Schostakowitsch und vor allem David Oistrach und Mstislaw Rostropowitsch – zum anderen spiegeln sie Schostakowitschs unmittelbare Realität im Erleben des Alltags in der Sowjetunion wider.
In der fortwährenden Angst vor den Repressalien durch stalinistische Apparatschiks schuf Schostakowitsch einen Matrjoschka-artigen Kompositionsstil, in dem die eigentliche Botschaft hinter einer plakativen Vordergründigkeit steckte. Heutige Interpretationen seiner Musik arbeiten mit viel Mühe die Doppelbödigkeit, die Verbitterung, den resignierten Sarkasmus und den beißenden Spott immer deutlicher heraus. Aber reduziert man damit Schostakowitschs Musik nicht zu sehr auf einen „psychologischen Reflex“? Steht sie nicht auch „für sich selbst“, ohne politische und historische Bezüge? Was wäre, wenn man Schostakowitschs Konzerte als „absolute Musik“ im radikalsten Sinne, als „l’art pour l’art“ betrachten würde, die losgelöst von der Person und der soziopolitischen Ära betrachtet werden?
Diese Fragen scheinen der Ausgangspunkt von Alexander Sladkovskys Überlegungen gewesen zu sein, die dann in seiner bereits vor einigen Monaten erschienenen Gesamtaufnahme der Konzerte Schostakowitschs mündeten. Das Album ist jedoch so ungewöhnlich und, aus meiner Sicht, so brillant, dass es viel zu schade wäre, wenn es im Wust der zahlreichen Neuerscheinungen (gerade Schostakowitsch-Neuaufnahmen gibt es derzeit unglaublich viele) untergehen würde. Zusammen mit seinem exzellenten Tatarstan National Symphony Orchestra, wirklich einer der besten (nicht nur) russischen Klangkörper, den ich in letzter Zeit gehört habe, hat er die sechs Konzerte mit sechs jungen Solisten aufgenommen, allesamt ehemalige Preisträger des renommierten Tschaikowsky-Wettbewerbs in Moskau. Als Pianisten sind Lukas Geniušas (beim Klavierkonzert Nr. 1 in c-Moll, op. 35) und Dmitry Masleyev (Klavierkonzert Nr. 2 in F-Dur, op. 102) zu hören; Sergey Dogadin (beim Violinkonzert Nr. 1 in a-Moll, op. 77) und Pavel Milyukov (Violinkonzert Nr. 2 in cis-Moll, op. 129) übernehmen die Soloparts des Violinisten; die Cellisten Alexander Buzlov (beim Cellokonzert Nr. 1 in Es-Dur, op. 107) und Alexander Ramm (Cellokonzert in g-Moll, op. 126) komplettieren das Sextett der Preisträger.
Schostakowitsch, entpolitisiert – so könnte die große Überschrift dieses Albums lauten. Und auch wenn die Puristen der Schostakowitsch-Exegese sich nun mit Grausen abwenden, ist das Ergebnis, das Sladkovsky, sein Orchester und die sechs Solisten vorlegen, mehr als nur ein Kuriosum eines „falsch verstandenen“ Schostakowitschs. Anstelle von beißendem Spott und bitterer Ironie perlen hier die Allegri und Allegretti der Konzerte virtuos, unbeschwert und verspielt; statt beklommener Angst und Resignation geraten die Andanti und Lenti einfach nur zutiefst melancholisch. Auffallend ist die starke tänzerische Rhythmik, die Sladkovsky mit den tatarischen Musikern herausarbeitet. So viel fein gestimmtes Schlagwerk habe ich selten bei einem Orchesterwerk Schostakowitschs wahrgenommen. Das Spätromantische, das nun klarer hervortritt, nimmt der Musik nichts von ihrer zeitlosen Universalität. Hier kommt Sladkovskys Erfahrung mit Mahler ganz zum Tragen. Gerade die beiden Klavierkonzerte und die Cellokonzerte profitieren von dieser „Entmystifizierung“ ungemein. Nicht zuletzt wegen der brillanten Solisten offenbaren die Konzerte in diesen Aufnahmen eine Virtuosität, Sanglichkeit und Klangschönheit, die man sonst in dieser Deutlichkeit (und ohne doppelten Boden) bei Schostakowitsch nie hört. Hinzu kommt eine Aufnahmetechnik, die keine Wünsche offen lässt. In puncto Klangregie spielt das russische Melodiya-Team in der Champions League. Ich glaube, ich habe dieses Jahr keine bessere Stereo-Produktion gehört. Das luxuriös gestaltete Klappcover rundet optisch eine künstlerisch und klanglich edle Veröffentlichung ab.
Fazit: Sladkovsky belegt mit seinem radikal musikbezogenen Ansatz, dass diese Konzerte viel mehr als eine Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte sind. Sie sind tatsächlich auch „nur Musik“, sie funktionieren auch ohne Kenntnis des persönlichen Dramas Schostakowitschs, ohne Wissen um die schwierigen politischen Zeiten, in denen sie entstanden. Wem Schostakowitsch bisher zu plakativ, zu politisch brisant war, findet hier einen radikal anderen Ansatz; Schostakowitsch-Fans werden mit diesem Album ihrem Idol eine ganz neue Seite abgewinnen.
Auf naxos.de findet man verschiedene empfehlenswerte digitale und physikalische Bezugsquellen.
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