Pianistischen Legenden begegne ich immer mit einer Mischung aus Respekt (vor dem Künstler und seinen unbestrittenen Verdiensten) und einer gewissen Skepsis. Denn allzu oft, so scheint mir, liegen musikalische Wahrheit und verklärende Dichtung weit auseinander. Die pianistischen Ikonen der Vergangenheit sind, nach heutigen technischen und interpretatorischen Maßstäben gemessen, oft auch nur „sehr gut“ und keine Götter. Sicher, sie waren allesamt ihrer Zeit voraus, aber ihre Überhöhung und Glorifizierung macht es den aktuellen Pianisten-Generationen schwer. Es ist fast so, wie bei der Fabel vom Hasen und dem Igel. Wo auch immer der junge Interpret sich auch hinwendet, scheint eine „Legende“ aufzuspringen und „Ich bin schon hier“ zu rufen. Adieu Standard-Repertoire.
Freilich: Es gibt Legenden der Vergangenheit, die, auch objektiv betrachtet, Einzigartiges geschaffen haben. Der Rumäne Dinu Lipatti (1917–1950) war (und ist) so eine Ausnahmeerscheinung. Abseits der Mythen (und Mystifizierung) des jungen, genialen, todkranken Pianisten, der die Musik der jungen, dem Tod geweihten Romantiker, wie Schumann und Chopin so einfühlsam wie kein Zweiter spielen konnte, war Lipatti nicht nur ein Jahrhunderttalent, sondern ein technisch bemerkenswert reifer, vollständiger Pianist. Seine Fähigkeiten als Dirigent und Komponist werden in nicht unerheblichen Maße dazu beigetragen haben, ihn unter den großen Pianisten des 20. Jahrhunderts hervorstechen zu lassen.