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Dinu Lipatti Collection – 100th Anniversary Edition

Pianistischen Legenden begegne ich immer mit einer Mischung aus Respekt (vor dem Künstler und seinen unbestrittenen Verdiensten) und einer gewissen Skepsis. Denn allzu oft, so scheint mir, liegen musikalische Wahrheit und verklärende Dichtung weit auseinander. Die pianistischen Ikonen der Vergangenheit sind, nach heutigen technischen und interpretatorischen Maßstäben gemessen, oft auch nur „sehr gut“ und keine Götter. Sicher, sie waren allesamt ihrer Zeit voraus, aber ihre Überhöhung und Glorifizierung macht es den aktuellen Pianisten-Generationen schwer. Es ist fast so, wie bei der Fabel vom Hasen und dem Igel. Wo auch immer der junge Interpret sich auch hinwendet, scheint eine „Legende“ aufzuspringen und „Ich bin schon hier“ zu rufen. Adieu Standard-Repertoire.

Freilich: Es gibt Legenden der Vergangenheit, die, auch objektiv betrachtet, Einzigartiges geschaffen haben. Der Rumäne Dinu Lipatti (1917–1950) war (und ist) so eine Ausnahmeerscheinung. Abseits der Mythen (und Mystifizierung) des jungen, genialen, todkranken Pianisten, der die Musik der jungen, dem Tod geweihten Romantiker, wie Schumann und Chopin so einfühlsam wie kein Zweiter spielen konnte, war Lipatti nicht nur ein Jahrhunderttalent, sondern ein technisch bemerkenswert reifer, vollständiger Pianist. Seine Fähigkeiten als Dirigent und Komponist werden in nicht unerheblichen Maße dazu beigetragen haben, ihn unter den großen Pianisten des 20. Jahrhunderts hervorstechen zu lassen.

Wenig Material ist von Lipatti erhalten; seine Diskografie birgt große Lücken in der klassisch-romantischen Standard-Literatur. (An dieser Stelle atmen die jungen Pianisten sicher auf!). So gibt es keine Beethoven-Aufnahme, quasi nichts von Schubert (außer zwei Impromptus) und ausgerechnet vom begnadeten Kontrapunktiker und Bach-Spezialisten Lipatti gibt es kein „Wohltemperiertes Klavier“, keine „Goldberg-Variationen“. Man kann nur mutmaßen, welche Wirkung die Aufnahmen solch zentraler Werke des pianistischen Kanons auf die Musikwelt gehabt hätten. (Und genau hier beginnt die Mystifizierung.)

»Es war nicht mehr Klavierspiel, es war Musik, losgelöst von jeder Erdenschwere, Musik in ihrer reinsten Form …«

So beschrieb Herbert von Karajan das Spiel Lipattis. Er war es, der das Philharmonia Orchestra bei Lipattis ersten kommerziellen Konzertaufnahmen (für EMI) leitete. Es entstand eine denkwürdige „Jahrhundertaufnahme“ (ja, der Superlativ ist gerechtfertigt) von Schumanns Klavierkonzert in A-Dur, op. 54. Im Jahr zuvor waren bereits in London einige Soloaufnahmen angefertigt worden. Bei seinem klaren, kraftvollen, gleichzeitig schwerelosen Spiel stockt einem auch heute noch der Atem. Seine Aufnahmen eben jenes Klavierkonzerts oder der Barcarolle in Fis-Dur und der Klaviersonate Nr. 3 in h-Moll von Chopin sind schlichtweg makellos.

Die kommerziellen Studioproduktionen bilden, so sorgsam wie noch nie zuvor remastert und restauriert, den Grundstock dieser einmaligen 12-CD-Box „Dinu Lipatti Collection – 100th Anniversary Edition“. Sie fasst erstmalig (meines Wissens) alle bekannten, verfügbaren Aufnahmen des rumänischen Pianisten in bestmöglicher Klangqualität zusammen: von einigen sehr amateurhaften Aufnahmen (wohlgemerkt die Aufnahmen, nicht das Spiel) aus dem Vorkriegsjahr 1938 mit Werken von Bach und Brahms über einige Mitschnitte aus den Kriegsjahren (mit Werken von Enescu, einigen Eigenkompositionen wie dem „Concertino en style classique“ und weiteren Miniaturen von Bach, Brahms etc.) bis zu den professionellen Studiosessions aus London (Schumann, Chopin, Liszt, Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 und Scarlatti). Dazu kommen zahlreiche Radioarchiv-Aufnahmen von Konzerten in Amsterdam, Baden-Baden, Genf, Luzern und Zürich: Zu hören sind Werke von Bartók, Chopin, Mozart, Schumann, dazu immer wieder Bach. Als (tragische) Krönung enthält die Sammlung den Mitschnitt seines letzten Recitals, das er am 16. September 1950 in Besançon gab und das er, von seiner Morbus-Hodgkin-Erkrankung deutlich geschwächt, gegen Ende abbrechen musste. Bereits wenige Wochen später, am 2. Dezember desselben Jahres, sollte Lipatti in Genf im Alter von nur 33 Jahren versterben. Die Aura des unausweichlichen Todes verleiht diesen Aufnahmen eine unglaublich fragile Schönheit.

Am 19. März 2017 jährte sich Dinu Lipattis Geburtstag zum 100. Mal. Diese Box wird seiner Stellung als ein einem der bedeutendsten Interpreten des 20. Jahrhunderts gerecht. Klangtechnisch ist dies die bei Weitem beste Lipatti-Veröffentlichung auf dem Markt; das Booklet mit dem lesenswerten Einführungstext von Lothar Brandt und einigen Bildern rundet diese würdige „Collector’s Edition“ ab.

Published inAlben vorgestellt

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