»Mein Meisterwerk? Der Boléro natürlich. Schade nur, dass er überhaupt keine Musik enthält.«
Maurice Ravel war der phänomenale Erfolg seines „Boléro“ zeitlebens suspekt. Kein anderes Werk des französischen Komponisten ist auch nur annähernd so bekannt wie der rund 15-minütige Tanz, der für Ravel lediglich eine »simple Orchestrationsübung« war. Auch heute dominiert in der öffentlichen Wahrnehmung der „Boléro“ Ravels Schaffen. Dabei hat das Œuvre des französischen Nationalkomponisten viel mehr einzigartige Orchesterwerke (im wörtlichen Sinne) zu bieten, als jene berühmten 15 Minuten. Ravel war wirklich keiner, der sich in seinen Werken gerne wiederholte.
Wie gut, dass es die „Ravel: Orchestral Works“-Reihe von Naxos gibt. Hier entsteht Stück für Stück eine qualitativ brillante Gesamteinspielung der Orchesterwerke Ravels, die sich mit den Referenzaufnahmen von Jean Martinon und Pierre Boulez durchaus messen kann. Das Besondere: Die Reihe klammert Ravels Orchestrierungen eigener (und fremder) Werke nicht aus. Damit wird der Naxos-Zyklus im Ergebnis umfangreicher und „vollständiger“ sein, als alle anderen „Ravel’s Complete Orchestral Works“ zuvor. Hinzu kommt, dass mit dem Orchestre National de Lyon einer der besten und erfahrensten Klangkörper Frankreichs musiziert und mit Leonard Slatkin ein echter „Soundmagier“ am Pult steht. Das sind ideale Voraussetzungen, um Ravels schillernde Klangfarben detailgetreu herauszuarbeiten.
Das Orchestre de Lyon ist damit übrigens ein echter „Wiederholungstäter“. Zwischen 2007 und 2011 nahm man für Naxos bereits die vollständige Orchestermusik Debussys, allerdings unter Jun Märkl auf. Die Kritik überhäufte diese Aufnahmen, genau wie die ersten drei Volumen der Ravel-Reihe, mit überschwänglichen Besprechungen.
Der vierte Teil des Zyklus’ wird dominiert von „Daphnis et Chloé“, aber (glücklicherweise) nicht von den beiden bekannten Orchestersuiten, sondern von der vollständigen Ballettmusik. Anders als bei den Suiten ist bei der originalen Ballettfassung neben dem Orchester auch ein Chor obligat (die meisten Aufnahmen der Suiten lassen ihn weg). Bei der vorliegenden Einspielung übernehmen die vorzüglichen Sängerinnen und Sänger von Spirito die textlosen Passagen. Der Chor Spirito entstand 2014 aus der Fusion der Chœurs et Solistes de Lyon und des Chœur Britten.
Das Ätherische der Stimmen, das bald kraftvolle, bald schemenhafte Musizieren des Orchesters: Leonard Slatkin macht die Vielschichtigkeit hörbar, die Ravels „Symphonie chorégraphique“ so besonders machen. Das Werk funktioniert auch ohne Tanz ganz hervorragend. „Daphnis et Chloé“ ist die längste Komposition des Franzosen. Sie enthält, gerade in der Verbindung von Stimmen und Orchesterfarben, einige der impressionistischsten Momente im Œuvre Ravels. Slatkin gelingt es, die bemerkenswerte Partitur mit ihren zahllosen Nuancen jede Sekunde lebendig zu gestalten. Die klassische Geschichte der Liebeswirren des Paares Daphnis und Chloe wird vor dem geistigen Auge (und dem Ohr) des Hörers zu Leben zu erweckt. Wer nur die Suiten kennt, wird sich bei diesem Klangspektakel wundern, Kenner und Liebhaber der originalen Ballettmusik werden von dieser rundum stimmigen, suggestiven Aufnahme begeistert sein.
Ergänzt wird „Daphnis et Chloé“ von der selten gespielten (und aufgenommenen) Orchestrierung des dritten Teils seiner „Miroirs“ für Klavier. „Une barque sur l’océan“ ist eine faszinierende Darstellung der sich ständig verändernden Stimmungen des Meeres. Auch hier glänzen Slatkin und das Orchestre National de Lyon als klangschöne Mittler der Farben Ravels.
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