Wenn Michael Gielen dirigiert, ist das Ergebnis niemals schlecht oder nur durchschnittlich. Der Maestro, der (im Gegensatz zu seinen „berühmteren“ zeitgenössischen Kollegen) bescheiden blieb, statt in Selbstinszenierungen und Manierismen zu verfallen, verband künstlerische Exzellenz mit profunder Sachkenntnis, Sorgfalt und uneigennütziger Bescheidenheit im Dienste der Musik. So unprätentiös wie das Artwork der Michael Gielen Edition gestaltet ist – welcher Dirigent lässt sich sonst im weißen T-Shirt fotografieren und nimmt das Bild als Cover-Image? (s. Vol. 3) – so unprätentiös ist Michael Gielens Dirigat. Transparenz als oberstes Gebot, um die Musik in ihrer gesamten Breite wahrzunehmen, um Musik erfahrbar zu machen, eröffnet gerade bei Mahler eine immense Klangwelt.
Michael Gielen gehört zu den ganz großen Mahler-Interpreten der letzten 100 Jahre. Bereits 2004 erschien eine Box mit Gielens Einspielungen der Sinfonien Nr. 1–9. Die Aufnahmen mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg bilden auch die Grundlage für diese erweiterte Ausgabe: Neben den in der ersten Box zusammengefassten Aufnahmen, die zwischen 1988 und 2003 entstanden, enthält diese Ausgabe zusätzlich: das „Adagio“ aus der Sinfonie Nr. 10 in Fis-Dur, die komplette Sinfonie Nr. 10 in Fis-Dur in der Aufführungsversion von Deryck Cooke, die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ mit dem Bariton Peter Mattei in einer Konzert-Aufnahme vom 24.01.2014 aus Koblenz, die „Kindertotenlieder“ mit der Altistin Cornelia Kallisch in einer Studio-Produktion vom 25./26.06.1998, die „Fünf Lieder nach Texten von Friedrich Rückert“ mit der Mezzosopranistin Elisabeth Kulman in einer Produktion vom 21.–24.05.2012, „Des Knaben Wunderhorn“ (mit „Blumine“) in Live-Aufnahmen mit Christiane Iven (Sopran) und Hanno Müller-Brachmann (Bariton) vom Januar 2009 und März 2011 und „Das Lied von der Erde“ mit Cornelia Kallisch (Mezzosopran) und Siegfried Jerusalem (Tenor) in Aufnahmen vom September 1992 und November 2001. Als Bonus enthält die Box noch eine DVD mit einem Livemitschnitt der Sinfonie Nr. 9 in D-Dur vom 30.06.2003 in Freiburg. Dabei handelt es sich, genau wie bei den „Lieder eines fahrenden Gesellen“ und den „Rückert-Liedern“, um eine Erstveröffentlichung.
Die Aufnahmen entstanden also über einen Zeitraum von rund 25 Jahren, doch sie sind alles andere als Patchwork. Dank der klaren Vision Gielens von der Musik Mahlers, dank der langjährigen Zusammenarbeit mit dem SWR Sinfonieorchester und dank der beständig exzellenten Aufnahmetechnik des SWR klingen diese Aufnahmen wie aus einem Guss, gleichzeitig sind sie lebendiger und authentischer, als die allermeisten Studioproduktionen, die tatsächlich über einen kürzeren Zeitraum entstanden.
Gielens Mahler ist uneitel, klar, präzise und nur dem Notentext verpflichtet. Der Dresdner Dirigent vermeidet stoisch jede Sentimentalität, spielt ungebremst wuchtig und kraftvoll, wenn es der Notentext gebietet, und scheut sich auch nicht mit den Interpretationstraditionen zu brechen, wenn diese sich zu weit von der Partitur entfernt haben. So gerät beispielsweise seine Deutung der Sinfonie Nr. 3 deutlich kantiger als man sie gemeinhin spielt. Statt Wohlklang und Pathos spiegelt die Aufnahme vor allem die modern anmutenden zugespitzten Kontraste mit einer geradezu beklemmenden Stringenz wider. Für Gielen-Kenner ist auch die Aufnahme der Sinfonie Nr. 10 in der Aufführungsversion von Deryck Cooke überraschend. Jahrelang hatte Gielen sich geweigert, diese aufzuführen, studierte sie dann aber doch genauer, um herauszufinden, dass sie „doch mehr Mahler enthält, als vermutet“. Ein Glücksfall: So eindringlich, so erhellend, so dramatisch hat keiner diese Fassung der Zehnten umgesetzt. Ebenfalls eindringlich und teilweise ungewohnt gegen die „herrschende Meinung“ gelingen Gielen die Sinfonien Nr. 1, 4, 7 und 9 quasi als Referenzaufnahmen, zumindest als Deutungen, an denen man die anderen Sichtweisen messen kann. Die übrigen Werke, darunter die populären Sinfonien Nr. 2 und 5 sowie die Orchesterlieder-Zyklen sind ebenfalls überdurchschnittlich gut gelungen. Kein Wunder: Die hier zusammengefassten Mahler-Aufnahmen Michael Gielens reflektieren seine interpretatorischen Highlights in einer langen Karriere als Mahler-Dirigent.
Die Michael Gielen Edition belegt in ihrem sechsten Teil abermals, dass „der Unbeugsame“ zu den bedeutendsten Dirigenten symphonischer Musik zu zählen ist. Der Ruhm seiner Kollegen derselben Generation verblasst, Michael Gielens Deutungen bleiben von der Zeit unangetastet. Nach den Sinfoniezyklen Bruckners und Brahms’ ist dieser Mahler-Zyklus ein Must-Have für alle Freunde symphonischer Musik. Mahler-Fans werden ohnehin nicht an den wegweisenden Interpretationen Gielens vorbeikommen.
Auf naxos.de findet man verschiedene empfehlenswerte digitale und physische Bezugsquellen.
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