Olivier Messiaen gilt heute als einer der bedeutendsten Komponisten des vergangenen Jahrhunderts, dessen Werk vor allem die Musik nach 1945 stark beeinflusste, obwohl es nur wenige direkte Nachahmer gefunden hat. Als Professor am Conservatoire de Paris war er zwischen 1941 und 1977 unter anderem Lehrer von Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis und prägte so indirekt den „neuen Klang“ der europäischen Nachkriegsmusik. Er war von 1931 bis zu seinem Tod erster Organist der Église de la Sainte-Trinité in Paris und hinterließ ein weitgefasstes Œuvre, das von der Orgelmusik über die Klavier- und Kammermusik bis zu groß angelegten Orchesterwerken reicht. Messiaens Stil bildete sich früh heraus und blieb bis zum Ende seiner Karriere nahezu unverändert. In seiner Musik spielen mystische Religionserfahrungen (er war tief im katholischen Glauben verwurzelt) und die Natur (speziell die Vogelwelt: Messiaen war auch Ornithologe) eine herausragende Rolle.
Die Schöpfung Gottes in der Natur steht auch in seinem zentralen Klavierwerk „Catalogue d’Oiseaux“, zu Deutsch „Der Vogel-Katalog“ im Mittelpunkt. Seine zweite Ehefrau Yvonne Loriod war die Widmungsträgerin. Sie führte das Werk auch 1959 als Erste auf. Sie war auch die Lehrerin des Weltklasse-Pianisten Pierre-Laurent Aimard. Dies ist wohl die beste Voraussetzung, um Messiaens wichtigstes Klavierwerk heute, fast 60 Jahre nach seiner Entstehung, aufzuführen und aufzunehmen. Denn diese Musik lässt sich nicht allein durch die Noten erfassen, man benötigt ebenso einen Einblick in das mystische Lebensbild des französischen Individualisten, um seine Schöpfungen mit Leben zu füllen.
Aimards Einspielung spiegelt Messiaens Weltsicht mustergültig (oder sollte ich referenzartig sagen?) wider. Dem französischen Pianisten gelingt es, Messiaens Vision von einer präzisen Abbildung der Natur, der Umgebung, der Uhrzeit, der Stimmung und natürlich des Vogelgesangs lebendig umzusetzen. So wie der Komponist beispielsweise die Kurzzehenlerche (Calandrella brachydactyla) an einem Nachmittag in der Provence hörte und das Gehörte, mehr noch, das gesamte Hörbild der Begegnung bei „L’Alouette Calandrelle“ in Notation für Klavier fasste, so erweckt Aimard diese Begegnung durch sein einfühlsames, gleichwohl präzises und facettenreiches Spiel zum Leben. Der Loriod-Schüler und Messiaen-Vertraute Pierre-Laurent Aimard wird zum idealen Erzähler dieses Katalogs: Er erhebt die Musik von der wissenschaftlichen Abbildung zu einem umfassenden Sinneseindruck, ganz so, wie es Messiaen selbst empfunden haben muss, als er diese Stücke schuf. Dabei verfügt Aimard über die pianistischen Fähigkeiten, die kontrastreiche Musik mit ihren rhythmischen Besonderheiten und dynamischen Feinheiten genau umzusetzen. Besser kann man das nicht machen – das Ergebnis ist schlichtweg überwältigend.
Unbedingt erwähnenswert ist die (wie immer) exzellente Klangregie der Pentatone-Produktion sowie das umfangreiche Booklet. Die physikalische Ausgabe, eine schmucke Box mit drei SACDs, umfasst zusätzlich eine Bonus-DVD, die Aimards erhellende Einführungen in die Musik und Philosophie Messiaens enthält.
Auf naxos.de findet man verschiedene empfehlenswerte digitale und physische Bezugsquellen.
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