Nicht wenige Rockmusik-Fans glauben, klassische Musik bestünde lediglich aus Wohlklang und gemäßigten Tempi. Sie beanspruchen Lautstärke und Aggressivität als Alleinstellungsmerkmale „ihres“ Genres und ergötzen sich im Hardrock an einprägsamen Gitarrenriffs, donnernden Schlagzeug-Einsätzen, wabernden Bässen und Metal-Shoutern, als gäbe es keine (musikalische) Alternative für AC/DC, Black Sabbath, Metallica & Co.
Und die klassische Musikwelt? Sie scheint das Vorurteil bestätigen zu wollen, sieht sich als Hüter einer distinguierten Kultur und einer Ästhetik, die das „Hässliche“ und „Laute“ ausklammert. Und wenn es dann mal um Lautstärke geht, werden ewig dieselben Werke bemüht, um zu belegen, dass ein Orchester auch „rocken“ kann: Tschaikowskys „Ouvertüre 1812“ und „Wellingtons Sieg“ von Beethoven, martialische Schlachtengemälde mit Kanonen, Krieg, Pathos und wehenden Fahnen.
Es geht auch anders. Es geht auch farbenfroher, überzeugender, subtiler und abwechslungsreicher. Und lauter, viel lauter.
Leif Segerstam und das Helsinki Philharmonic Orchestra haben für das Album „Earquake“ 16 Stücke ausgewählt, die belegen, dass Lautstärke, Aggressivität, Energie und „Drive“ kein Privileg eines bestimmten Genres sind. »Große Werke, treibende Rhythmen, explosive Klänge”, verspricht das Cover und tatsächlich: Was hier an Lautstärke und druckvoller Musik geboten wird, würde jedem Wacken-Festival zur Ehre gereichen. Der Titel „Ohren-Beben“ ist Programm. Anspruchsvolle Musik von einigen der besten Komponisten des 20. Jahrhunderts, etwa Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Hanson, Respighi, Ginastera, Ibert oder Revueltas. Keine abgegriffenen Orchesterschlachten aus dem 19. Jahrhundert, keine offensichtlichen Kandidaten (etwa aus „Le sacre du printemps“ von Stravinsky), stattdessen reihenweise Rares.
„Earquake“ ist keine lose Zusammenstellung, das Album wurde konzeptuell aufgebaut. Ziel war eine gut durchhörbare Produktion, die man, obwohl sie aus 16 Kompositionen von 16 Komponisten besteht, als musikalische Einheit wahrnimmt. Dafür wurden die Werke auch nicht aus bestehenden Aufnahmen kompiliert, sondern eigens für „Earquake“ aufgenommen. Und es mag kein Zufall sein, dass Finnen sowohl in der Rockmusik als auch bei diesen orchestralen Pendants zum „Heavy Metal“ eine ganz exzellente Figur abgeben. Hier sind echte Könner am Werk.
Drei kontemplative Stücke „zum Durchatmen“ wurden eingestreut: Druckmans „Prism“, Rautavaaras „Angel of Light“ und Segerstams „Nostalgic Thoughts“. Auf dem restlichen Album geht es lautstärketechnisch und rhythmisch voll zur Sache. Dabei reicht die Bandbreite von den ekstatischen Tänzen in Chatschaturians „Mountaineers“ über die „barbarischen“ Rhythmen der „Night of the Mayas“ Revuletas’ und dem perkussiven „War Dance“ Respighis bis zum explosiven Finale „Hekla“ des isländischen Komponisten Jón Leifs. Hekla ist ein rund 1500 m hoher Vulkan im Süden Islands, der für seine Ausbrüche berühmt und berüchtigt ist. Ein 140-köpfiges Orchester, darunter alleine 22 Schlagwerker, die Ambosse, Sirenen, Metallketten, Steine, Stahlplatten und Kanonen bearbeiten und bedienen, lassen das Bild einer gewaltigen Eruption des Vulkans akustisch lebendig werden. Bis zum heutigen Tag gilt Leifs „Hekla“ als eines der lautesten Werke, die jemals komponiert wurden.
Das Album erschien ursprünglich 1997 mit anderem Artwork (und einem Ohrenstöpsel als Gimmick im Jewel-Case). Bei der nun veröffentlichten Neuauflage hat man auf den Hörschutz verzichtet, die Musik und das Konzept des Albums sind aber unverändert überwältigend – im wahrsten Sinne des Wortes. Fast schon, wie bei einem Rockklassiker.
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