2021 war, wie bereits das Jahr zuvor, kein gewöhnliches Jahr. Es startete mit der Hoffnung auf ein baldiges Ende der Covid-19-Pandemie durch die jetzt verfügbaren Impfstoffe, es endet mit der Erkenntnis, dass nicht einmal die dritte Booster-Impfung die pandemische Lage beendet wird. Dazwischen gab es alles: Lockdowns, Öffnungen, steigende und sinkende Inzidenzen, Hoffen, Bangen, bestätigte Befürchtungen und Enttäuschungen.
Musikalisch war 2021 – allerdings auf positive Weise – ungewöhnlich, ungewöhnlich gut! Denn obwohl die Schutzmaßnahmen, die Reduzierungen im Konzert- und Aufführungsbetrieb sowie die Kontaktbeschränkungen Aufnahmen gewiss nicht leichter machten, erschienen bei Naxos, den Naxos-Group-Labels und den über 200 Vertriebslabels von Naxos Deutschland eine Reihe exzellenter, ja sogar herausragender Alben.
Ich habe mir erlaubt, eine ganz persönliche “Top 5” des Jahres zusammenzustellen. Einige Favoriten der Kritik sind dabei, andere hingegen wurden (aus meiner Sicht ungerechtfertigt) fast ein wenig übersehen. Einige offensichtliche Highlights im Programm – etwas die “Mariss Jansons Edition” (BR-Klassik, 900200) oder Boris Giltburgs Beethoven-Klaviersonaten-Zyklus (Naxos, 8.509005) – habe ich bewusst weggelassen. Andere Lieblingstitel, etwa Sharon Kams Hindemith-Album (Orfeo, C210041), “Ramon Humet: Llum” (Ondine, ODE1389-2) oder “Among Whirlwinds” (Oehms, OC1723) von den wunderbaren Singer Pur, hätten es genauso verdient gehabt, in meine Top-5-Liste aufgenommen zu werden und seien hier als ebenbürtige Höhepunkte ausdrücklich wärmstens empfohlen. Aber: Eine Auswahl musste ich halt treffen… und hier ist sie:
Friedrich Gulda: Sinfonie G (SWR music, SWR19096CD) | Mehr…
Gleich im Januar 2021 erschien dieser sensationelle Archiv-Fund bei SWR music: Eine bisher unbekannte, offenbar in den Archiven vergessene Aufnahme der “Sinfonie in G” von Friedrich Gulda, die am 20.11.1970 im Studio Stuttgart Villa Berg mit dem Radio-Orchester Stuttgart und dem Südfunk-Tanzorchester (also der “Big Band”) unter der Leitung von Gulda selbst entstand – und nie gesendet wurde. Das Werk, eingebettet in eine klassische, dreisätzige Sonatenform, ist eine spektakuläre Verknüpfung von klassischen und und nicht-klassischen Elementen, wie sie Anfang der 1970er Jahre immer wieder versucht wurden (man denke nur an das “Concerto for Group and Orchestra” von Jon Lord für seine Band Deep Purple oder Claus Ogermans “Symbiosis” für das Bill Evans Trio). Damals hatten solche “Crossover-Werke” einen sehr schlechten Stand bei der Presse und weiten Teilen des Publikums, heute ist man da sicher aufgeschlossener. Guldas vergessene und wiederentdeckte Sinfonie sind aus heutiger Sicht ein Meilenstein, der niemals stattfand (über die Gründe könnte man spekulieren). Sie changiert geschickt zwischen klassischer Eleganz, freundlicher, soundtrackartiger (im besten Sinne!) Unterhaltungsmusik und stark improvisatorischen, fast bis zum Free Jazz heran reichenden Elementen. Das ganze Album (es enthält noch einige Klavier-solo-Werke, die in ähnlichen Gefilden wildern) ist immer noch aufregend frisch und spritzig und belegt das Ausnahmetalent Friedrich Guldas.
Gaechinger Cantorey: Bach – Matthäus-Passion (Accentus, ACC30535) | Mehr…
Im November 2020 (also mitten in der zweiten Corona-Welle) machte sich Hans-Christoph Rademann mit Ensemble und Chor der Gaechinger Cantorey gemeinsam mit einem außergewöhnlichen Solistenensemble (Isabel Schicketanz, Marie Henriette Reinhold, Patrick Grahl, Benedikt Kristjánsson, Peter Harvey und Krešimir Stražanac) auf den Weg, Bachs zeitlosem Meisterwerk aus rasenden Chören, innigen Chorälen und emotionsgeladenen Arien eine neue und frische Perspektive zu verleihen, die in ihrer Dramatik und Bildhaftigkeit die bekannte Passionsgeschichte immer wieder neu erleben lässt. Als es im März 2021 bei Accentus erschien, traf die Intensität und Innigkeit der Darbietung mitten ins Herz einer durch einen langen Corona-Winter mürbe gemachten Seele. Ein Beispiel sei genannt: Es gibt diesen Gänsehaut-Moment im zweiten Teil der Passion, als der Chor das Tempo und die Lautstärke kurz vor dem dramatischen Höhepunkt der Passion heraus nimmt und unbegleitet, still, langsam, zurückhaltend, wie in einer Krypta betend “Wenn ich einmal soll scheiden” anstimmt.
Das ist wirklich unvergleichlich, unerhört, unübertroffen. In der wahrlich nicht kleinen Diskografie der Matthäus-Passion, in der es an Höhepunkten nicht mangelt, ist diese Aufnahme der Gaechinger Cantorey unter Hans-Christoph Rademann einzigartig, klanglich und interpretatorisch herausragend.
Kirill Petrenko: Gustav Mahler – Symphonie Nr. 7 (BSO Recordings, BSOREC0001) | Mehr …
Das Album erschien im Mai 2021 als erste Veröffentlichung des neu gegründeten Labels der Bayerischen Staatsoper Bayerische Staatsoper Recordings. Und es schlug ein wie eine Bombe. Die aufwändige Aufmachung in Buchform mit schöner Prägung und einem 70-seitigen Booklet (!) demonstriert visuell den Qualitätsanspruch des Labels und des Ensembles. Hier werden herausragenden Aufnahmen in edelster Verpackung veröffentlicht: Jedes Release ist ein Sammlerstück. Der vorliegende Live-Mitschnitt von Gustav Mahlers schwer zugänglicher 7. Sinfonie war auch musikalisch eine Offenbarung. Kirill Petrenko gestaltet die Sinfonie dramatisch zugespitzt, das Orchester demonstriert dabei unerhörte Transparenz. Petrenko gelingt, woran viele große Mahler-Dirigenten bei der Siebten scheiterten: Der Erzählstrang wird und bleibt sichtbar, die Sinfonie zerfällt nicht in einzelne Sequenzen, sondern ist kohärent, ein in sich geschlossenes Gipfelwerk der spätromantischen Literatur. Man erlebt, wie ein mit seinem Dirigenten innig vertrautes Orchester über alle symphonische Kraft und Brillanz hinaus eine epische Geschichte erzählt: ein unvergesslicher musikalischer Moment und ein einzigartiges Klangerlebnis.
Frank Dupree: Kapustin – Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 (Capriccio, C5437) | Mehr…
Gerne spricht man in Anlehnung an den wohl prominentesten Vertreter des symphonischen Jazz bei Nikolai Kapustin vom “Russen auf Gershwins Spuren” oder gar vom “russischen Gershwin”. Das charakterisiert allerdings seine Musik nur teilweise, denn Kapustin war bei seiner Integration von Jazz und klassischer Musik viel radikaler (zumindest in Zeiten, in denen es die Kulturapparatschiks tolerierten, dass man wesentliche “westliche” Musik in die sowjetische Musik einfließen ließ), als es Gershwin jemals bei seinen “ernsten” Werken sein wollte. Stilistisch stehen die meisten seiner Werke im Umfeld des Jazz und verarbeiten dessen Elemente gekonnt mit Mitteln der klassischen Musiktradition von Bach bis Prokofjew und Strawinsky. Dabei sind die komplexen Improvisationen minutiös auskomponiert. Was hier spontan klingt, ist in Wirklichkeit genau durchdacht. Dass seine Musik dennoch “authentisch” nach Jazz klingt, verdankt diese Aufnahme vor allem seinem Interpreten Frank Dupree. Dieser, früher selbst einmal als Schlagzeuger aktiv, erfasst die rhythmische Komplexität des vierten Klavierkonzerts und spielt sie mit spielerischer Leichtigkeit. Das Ergebnis dieses im August 2021 bei Capriccio erschienen Albums (von wegen Sommerloch!) ist Musik mit hohem Unterhaltungsfaktor, hoch virtuos und dennoch verspielt und melodisch. Wie guter Jazz. Frank Dupree hat sich mit diesem Album wirklich in die allererste Liga der Interpreten zeitgenössischer “Grenzgänger-Musik” hinein katapultiert und Kapustins Orchestermusik endlich einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Das Album hat gerade nicht umsonst den “Keep on Listening Award” von Classics-Today-Chefredakteur und Kritiker-Ikone Dave Hurwitz gewonnen.
Gabriel Schwabe: Elgar/Bridge – Cello Concertos (Naxos, 8.574320) | Mehr…
Edward Elgars Cellokonzert, ein ergreifendes, nachdenkliches und zutiefst melancholisches Werk, erfreut sich (nach einigen Startschwierigkeiten) spätestens seit der legendären Einspielung von Jacqueline du Pré 1965 ungebrochener Beliebtheit und gehört zu den bekanntesten Cellokonzerten der gesamten Literatur. Im Gegensatz dazu blieb Frank Bridges nicht minder eindrucksvolles “Oration: Concerto elegiaco” bald nach seiner Uraufführung 1930 jahrzehntelang unaufgeführt und kam nie über den Status eines Geheimtipps hinaus. Dabei weist es durchaus eine geistige Verwandtschaft zu Elgars Werk auf und kann als Trauerrede von großer erzählerischer Kraft gegen die Sinnlosigkeit des Krieges gedeutet werden. Beide Konzerte können schnell in überzeichneten (spät-) romantischen Kitsch abgleiten, beide Konzerte benötigen eine transparente, luftige Orchesterbegleitung, um nicht in eine allzu sämige Orchestersoße (sorry for my french) umzuschlagen. Aufnahmen von Elgars Konzert gibt es mehr als genug, auch namhafte Cellisten und Cellistinnen sind nach du Pres Aufnahme daran kläglich gescheitert. Bei diesem im November 2021 bei Naxos erschienen Album stimmt alles: Durch das ebenbürtige Bridge-Konzert wird die gesamte “Album-Architektur” stimmig gemacht (und nicht mit sinnlosem Füllstoff verwässert). Außerdem passt Gabriel Schwabes sanglicher, eloquenter, gleichzeitig wohldosierter Stil exzellent zu den Werken. Das Album war ein spätes Highlight im Release-Plan und der exzellente Abschluss eines überaus erfreulichen musikalischen Jahres.
Schreibe den ersten Kommentar