An Aufnahmen des „Wohltemperierten Klaviers“ von Johann Sebastian Bach mangelt es wirklich nicht. Freilich, bei solch einem Meilenstein der Klavierliteratur ist es schon verständlich, dass sich immer wieder neue Generationen an Interpreten daran abarbeiten. Gleichzeitig stehen die jungen Musiker und Musikerinnen vor einem Dilemma: Es scheint jedes Geheimnis gelüftet, jeder wissenschaftliche Ansatz umgesetzt, jede Variante ausgelotet. Was kann man in Zeiten allgegenwärtiger spieltechnischer Perfektion tun, um sich als Interpret aus der unübersichtlichen Masse an Musikerkolleginnen und -kollegen hervorzutun?
, Tochter und Schülerin des berühmten Pianisten und Klavierpädagogen Karl-Heinz Schlüter, hat eine einfache und naheliegende Antwort: Individualität. Und daran mangelt es der deutsch-schwedischen Pianistin wirklich nicht. Sie ist vielseitig talentiert: Pianistin, Musikwissenschaftlerin, aber auch Singer-Songwriterin, Dichterin und Malerin. Sowohl als Pianistin als auch als Lyrikerin wurde Ann-Helena Schlüter mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Und sie ist bekennende Christin, eine, die mit ihrer Kunst auch Zeugnis ablegen möchte, ganz im Sinne den Bachischen Mottos „Soli Deo Gloria“, allein Gott die Ehre. All diese Facetten ihrer Persönlichkeit fließen in ihre Deutungen hinein und münden – nach Veröffentlichungen mit den „Goldberg-Variationen“ (2010) und der „Kunst der Fuge“ (2014) – in ihre Aufnahme des ersten Buchs des „Wohltemperierten Klaviers“.
Bach ist Ann-Helena Schlüters erklärter »Herzenskomponist«, einer der mit Leidenschaft, Fleiß, Konsequenz und Hartnäckigkeit seine außergewöhnliche Gabe ganz in den Dienst und zu Ehren Gottes gestellt hat. Und so sind folgerichtig für sie die 24 Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers regelrechte »Psalmen«, religiöse Lieder (in diesem Fall textlose religiöse Lieder) zum Lobe Gottes.
Und in Bachs Gottbild steckt, folgt man Ann-Helena Schlüters Interpretationen, Anmut und Güte, Milde und Freundlichkeit. Das bedeutet freilich nicht, dass sie aus Bachs vollendeter Musik eine gefühlsduselige Esoterik-Veranstaltung macht. Ordnung und Strenge, ein betont barocker, „unromantischer“ Klaviersound, der dem Cembalo in seiner Gleichmäßigkeit nachempfunden ist, und ein behutsamer Umgang mit pianistischen Stilmitteln sind für Ann-Helena Schlüter selbstverständlich. Doch hinter der disziplinierten Spielweise mit klarer Artikulation und brillanter Technik (wundervoll, die rasenden Läufe im c-Moll-Präludium Nr. 2) lässt die in Nürnberg geborene Pianistin immer wieder einen geradezu spirituellen Ansatz erkennen, so als ob sie, gemeinsam mit Bach und durch Bachs Musik, die Wunder der Welt (oder des Göttlichen, wie sie es nennen würde) betrachtet. Es steckt viel Kontemplation in diesen Aufnahmen, keine Fragen, kein Suchen, keine Antworten (außer jenen, die die Musik ohnehin gibt), wohl aber ein Betrachten und Bestaunen der Vollkommenheit der Musik Bachs und damit Ehrfurcht und Demut vor der Schöpfung Gottes.
Ann-Helena Schlüter gelingt eine „philologische“ Deutung des Wohltemperierten Klaviers, die den durch und durch poetischen, christlich-humanistischen Aspekt der Musik(-Welt) Bachs in den Vordergrund stellt, ohne den musikhistorischen Aspekt außer Acht zu lassen. Sie wagt mit großer Natürlichkeit etwas, das in Zeiten einer auf „historisch-informierten Fakten“ basierenden Musikexegese eine Rarität geworden ist: Sie offenbart als Interpretin ein Stück ihrer selbst.
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