Zum Inhalt

Zhu Xiao-Mei: Johann Sebastian Bach – The French Suites

In unserem eurozentristischen Weltbild verdrängen wir oft, dass das, was wir „westliche Musik“ (ob ihrer Provenienz) nennen, in Wirklichkeit längst universelle Musik geworden ist. Die Werke der großen Komponisten Bach, Beethoven, Mozart usw. nur durch die nationale Brille sehen zu wollen, wäre zu kurzsichtig. Denn so wie Bach und alle anderen Komponisten stets den Einflüssen anderer Kulturen ausgesetzt waren, so beeinflusst die Musik die Menschen weit über die Grenzen hinweg. Die besten Interpreten, die man einst in der Heimat des Komponisten suchte, kommen heute aus aller Herren Länder: Bach-Spezialisten aus Japan, Beethoven-Experten aus Argentinien, Mozart-Interpreten aus Belgien, Wagner-Sänger aus Südkorea. Die Musik ist heute das, was sie von der Anlage immer war: wahrhaft international.

Als die chinesische Pianistin Zhu Xiao-Mei in die Wirren der maoistischen Kulturrevolution geriet, war sie jung, zu jung, um als „Wunderkind“ keinen Schaden zu nehmen. Sie bestand mit sechs Jahren die Aufnahmeprüfung zum Konservatorium, gab mit acht Jahren ihr erstes Konzert. Musik, speziell „westliche Musik“, galt aber damals in China als „bourgeois“, der Bauernschaft unnütz. Die junge Xiao-Mei wird von der Propaganda angesteckt eine glühende Rotgardistin und sie gerät in die Mühlen der Kulturrevolution. Sie bricht ihre Ausbildung ab, denunziert Lehrer und landet schließlich selbst in einem Umerziehungslager. Genau dort, zwischen harter Arbeit, psychologischer Gehirnwäsche und politischer Indoktrinierung entdeckt sie ihre Liebe zur Musik wieder, speziell zu Bach. 1974 kehrt sie nach Peking zurück, gibt 1976 wieder Konzerte und flieht 1980 über Hongkong in die USA, vor dort aus geht sie 1985 nach Frankreich. Ihre Autobiografie „Von Mao zu Bach. Wie ich die Kulturrevolution überlebte“ liest sich wie ein Roman und doch ist es die wahre Lebensgeschichte der Pianistin.

Zhu Xiao-Mei gilt heute als eine der bedeutendsten Bach-Interpretinnen der Gegenwart. Ihre hohe Anschlagkultur, ihre unfassbar nuancierte Dynamik, die Disziplin und Reinheit ihres Spiels sind unvergleichlich. Bachs Musik, die Zhu Xiao-Mei aus einer Spirale von Selbstvorwürfen und Indoktrinierung befreite, hat in ihren Interpretationen eine unglaubliche Präsenz, eine spirituelle Kraft, die alles ordnet.

Für das deutsche Label Accentus hat die chinesische Pianistin, die mittlerweile einen französischen Pass besitzt und schon viele Jahre in Paris lebt, vier Alben eingespielt: „Die Kunst Der Fuge“ BWV 1080 (2014), die „Inventionen & Sinfonias“ BWV 772-801 (2015), die „Goldberg-Variationen“ BWV 988 (2016) und zuletzt die „Französischen Suiten“ BWV 812-817 (2017). Alle Veröffentlichungen sind sowohl als CD und Download, als auch als audiophile Doppel-LPs (auf 180 gr. Vinyl) erhältlich. Makellose Klangqualität gehört bei den Leipzigern stets zum guten Ton (man verzeihe mir das Wortspiel). Sie ist auch bei einer so sensiblen Interpretin wie Zhu Xiao-Mei unbedingt notwendig, damit jede Facette ihres Spiels klar zu hören ist. Da macht es erfreulicherweise auch keinen Unterschied, ob man sich als Musikfan für den digitalen Hochglanz der CD (und der Downloads) oder für die analoge Wärme der qualitativ hochwertigen Vinyl-Ausgabe entscheidet. Beide geben plastisch das wieder, was Frau Zhu am Klavier zaubert.

Ihre jüngste Aufnahme, die „Französischen Suiten“, besticht durch bescheidene, fast demütige Schlichtheit. Hier wird nicht protzig verziert, das Pedal wird nur punktuell benutzt, die Tempi sind moderat aber tendenziell zügig, was ihren Bach nicht schwer und jenseitig, sondern leicht und spielerisch erscheinen lässt. Das Cover zeigt Zhu Xiao-Mei vor dem Miró-Bild „Le Jour“, ein ausdrücklicher Wunsch der Pianistin. Sie verbindet mit dem Maler, »etwas wie eine geradezu kindliche Unschuld«, schreibt sie im Booklet, »vergleichbar mit der, die ich in den Französischen Suiten entdecke.« Sie sieht in Miró einen »Meister des Lichts, schlicht, farbenprächtig, humorvoll und so voller Leben.« Diese Charakterisierung des Malers lässt sich uneingeschränkt auf ihre Bach-Interpretationen übertragen: voller Licht, gleichzeitig schlicht, reich an Klangfarben und nicht ohne Lebensfreude. Zhu Xiao-Mei ist eine der ganz großen Bach-Interpretinnen.

Auf naxos.de findet man verschiedene empfehlenswerte digitale und physikalische Bezugsquellen, sowohl für die CD-Ausgabe als auch für die Doppel-LP.

Published inAlben vorgestellt

Schreibe den ersten Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.