Während der großen Erfolge der Rockgruppe Genesis in den 1980er Jahren glaubten viele, dass Phil Collins nicht nur der Frontmann (als Sänger und Schlagzeuger) wäre, sondern auch der musikalische Kopf, zumal Collins parallel zu den Erfolgen mit Genesis eine überaus erfolgreiche Solokarriere hatte. Genesis-Aficionados und Kenner der Szene wussten es freilich besser: Der „starke Mann“ bei Genesis war Tony Banks.
Er war die qualitative Instanz, die bei den musikalischen Ideen der einzelnen Mitglieder die Spreu vom Weizen trennte. Banks steuerte bereits zu seligen Progressive-Rock-Zeiten in den 1970er Jahren wohl die meisten musikalischen Ideen bei und war, spätestens nach dem Ausstieg Peter Gabriels und Steve Hacketts (dem Gitarristen des „klassischen Quintetts“ der ersten Phase), der Kopf, Denker und Lenker der Band. Tony Banks war es auch, der die Band in immer neue musikalische Gefilde führte. Seine musikalische Neugierde blieb dabei sein wichtigster Antrieb, Genres waren für ihn nebensächlich: Ob symphonischer Progressive Rock, konzeptueller Rock, Stadionrock oder Pop, für Banks zählte vor allem eines: Die Qualität seiner Arbeit. Denn auch wenn sich die Fans der ersten Stunde mit Schaudern von „Invisible Touch“ und „Abacab“ abwendeten: Es war perfekter Pop, den Banks und seine Band produzierten, ganz nah am Zeitgeist.
Vom symphonischen Progressive Rock zur Orchestersuite
Um Banks’ Hinwendung zur Orchestermusik zu verstehen, muss man vielleicht noch einmal in seine musikalische Vergangenheit schauen. Gerade in seinen Progressive-Rock-Zeiten experimentierte Banks gerne mit neuen, orchestralen (Synthesizer-) Klängen und komplexen Arrangements. Diese Erfahrungen kamen ihm bereits bei seinen „klassischen“ Exkursen (Seven, 2004, 8.557466; „Six Pieces for Orchestra“, 2012, 8.572986) zugute. Sein Gespür für Melodien und Struktur, seine konkrete Vorstellung von einem gewünschten Sound ist seiner (natürlich fünfteiligen) Orchestersuite „Five“ genau anzuhören. Doch anders als bei den beiden vorigen Projekten arbeitete Banks dieses Mal nach seinem „Rock-Schema“: Zunächst entstanden seine Klavier- und Celesta-Parts, die er in seinem Heimstudio aufnahm. Dann spielte er die Orchester- und Solo-Parts als „Demos“ auf dem Klavier ein und schickte sie seinem Arrangeur Nick Ingman, der die Partituren ausarbeitete und dann einzeln aufnahm (Orchester, Chor, Solisten), sodass Banks und Ingman während der ganzen Entstehungszeit der Aufnahmen, das Ergebnis steuern und ggf. nachkorrigieren konnten. Die Komposition wurde also erst im Studio vollendet. Sicher ist dies eine eher unkonventionelle Herangehensweise, aber für den „Studio-Fuchs“ Banks war dies der Modus Operandi, den er von seinen Prog-Produktionen kannte und bei dem er wieder alle Fäden in der Hand behielt. Anders als bei den Vorgänger „Seven“ und „Six“ lag „Five“ nur als Entwurf vor und erhielt seine endgültige Form erst bei der Arbeit im Studio.
Das Ergebnis, „Five“, ist große, cineastisch anmutende Orchestermusik, klanglich irgendwo zwischen einer üppigen, englischen Spätromantik und leichten Minimal-Music-Ansätzen zu verorten. Tony Banks, der die Klavier- und Celesta-Parts selbst spielt (ein Novum bei seinen Orchesterwerken), bleibt – ganz wie in alten Genesis-Zeiten – zumeist im Hintergrund. Als Solisten treten John Barclay am Kornett und der Trompete, Martin Robertson am Alt- und Sopran-Saxofon sowie an der Duduk, Frank Ricotti an verschiedenen Perkussionsinstrumenten und Skaila Kanga an der Harfe in Erscheinung. So eklektizistisch die Solisten, so homogen und organisch wirkt „Five“ als Ganzes, was sicher ein Ergebnis der ungewöhnlichen Herangehensweise bei der Entstehung und Aufnahme der Suite ist.
Für wen ist aber dieses Album etwas? Nun, zum einen wären da die Fans der „alten“ Progressiven Genesis, also der Alben „Trespass“ bis „Winds and Wuthering“, zum anderen wären da Filmmusik-Fans, die eine Schwäche für große Melodiebögen und üppige, abwechslungsreiche Arrangements haben.
Es gibt ja mittlerweile einige „Rocker“, die sich auf dem Gebiet der „klassischen Musik“ versucht haben: Paul McCartney, Billy Joel, Joe Jackson, Keith Emerson und Jon Lord fallen mir da ein. Tony Banks gehört in dieser Riege sicher zu den interessantesten Figuren, nicht zuletzt auch, weil er erfreulicherweise mehr am musikalischen Gesamtergebnis, als an einer herausragenden Solisten-Position interessiert ist.
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