Kann man zwei der beeindruckendsten und wuchtigsten Orchesterwerke des 20. Jahrhunderts – Debussys „La Mer“ und Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ – aufs Klavier übertragen? Sicher nicht, oder doch? Beide Werke gehören zu den einflussreichsten Kompositionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (und nicht nur der ersten Hälfte). Die eine, „La Mer“, begründete mit improvisatorisch anmutenden Klangflächen Debussys impressionistischen Stil, die andere, „Le Sacre“, gilt als „Urknall der Moderne“ und ersetzt die romantische Klangästhetik mit der Polyrhythmik und der „nackten“, ungeschönten Darstellung des „Stile barbaro“. Beide lösen die traditionelle Harmonik auf, wenn auch mit unterschiedlichen Ergebnissen. Entscheidend ist der Orchesterapparat: In Debussys Klangwelt ist die Instrumentierung von prägendem Charakter, in Strawinskys „Sacre“ wird das Orchester zum kraftvollen, vielstimmigen und geradezu ekstatischen Rhythmusinstrument. Wie sollte man so etwas auf das Klavier übertragen?
Und doch fertigten sowohl Debussy als auch Strawinsky selbst Klavierauszüge ihrer zentralen Werke an. Das mag zum einen auch wirtschaftliche Gründe gehabt haben, Noten für Klavier zu vier Händen ließen sich an die Amateurpianisten im Großbürgertum besser verkaufen als Orchesterpartituren. Das mag zum anderen praktische Gründe gehabt haben, so war Strawinskys Transkription auch eine Art „Arbeitsversion“ für Demonstrationszwecke. Die eigenhändigen Transkriptionen wurden mehrfach aufgenommen und gehören fast schon ein wenig zum Kernrepertoire jedes ambitionierten Klavierduos. Die Übertragung funktioniert also durchaus, ist kein „Sakrileg“ an der Orchesterpartitur.
Ralph van Raat, ein ausgewiesener Experte für rare Klaviermusik des 20. Jahrhunderts, ging mit diesem Album einen eigenen Weg: Für seine Aufnahme von „La Mer“ und „Le Sacre“ wählte er zwei selten aufgenommene Klavierbearbeitungen für Soloklavier, die aus dem direkten Umfeld der Komponisten stammen: Lucien Garban (1877–1959) schrieb seine „La-Mer“-Bearbeitung 1938; Vladimir Leyetchkiss (1934–2016) veröffentlichte seine Version des „Sacre“ 1985. Garban war selbst Komponist und mit Debussy und Ravel befreundet; der Pianist Leyetchkiss, einer der letzten Schüler des großen Heinrich Neuhaus, war ein engagierter Streiter für die Kunst der Klaviertranskription und holte sich noch zu Strawinskys Lebzeiten den Segen des Komponisten. Beiden Bearbeitungen ist gemein, dass sie den Geist der Originalkompositionen erhalten. In diesen Reduzierungen auf die klanglichen Möglichkeiten des Klaviers (und auf die virtuosen Qualitäten des Pianisten) werden Details der Partitur hörbar, die in den üppigen Orchesterfassungen leicht zu überhören sind.
Seine profunde Kenntnis der Musik des 20. Jahrhunderts kam Ralph van Raat bei diesem Album sehr zugute. Der Debussy klingt tatsächlich nach Debussy, van Raats Strawinsky offenbart viel vor der rhythmischen und „barbarischen“ Un-Romantik der Orchestervorlage. Die teilweise sehr komplex gestalteten Partituren bereiteten dem niederländischen Pianisten keine hörbaren Schwierigkeiten. Van Raats Spiel ist bei Debussy leicht, flüchtig und perlend, bei Strawinsky verdichtet und akzentuiert. Mehr Debussy und mehr Strawinsky kann man aus diesen Werken auf dem Klavier nicht herausholen. Ein Album für Kenner und Liebhaber, für neugierige Debussy- und Strawinsky-Fans, die gerne auch mal „zwischen den Zeilen“ hören möchten.
Auf naxos.de findet man verschiedene empfehlenswerte digitale und physikalische Bezugsquellen.
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