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Maria Lettberg · Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Ariane Matiakh: Zara Levina – The Piano Concertos

Zara Aleksandrovna Levina (oder in der korrekten deutschen Transkribierung: Sara Alexandrowna Lewina, 1906–1976) galt schon sehr früh als „Wunderkind“. Mit acht Jahren gab sie ihren ersten Klavierabend, mit vierzehn begann sie am Konservatorium von Odessa mit dem Klavierstudium. Bald entschied sie sich für eine Karriere als Komponistin und setzte ihr Studium am Moskauer Konservatorium fort, wo sie unter anderem von Mjaskowski und Glière unterrichtet wurde. Zara Levina schrieb zahlreiche Lieder, Kammermusik und zwei Klavierkonzerte.

Obwohl sie hohes Ansehen unter Musikern wie David Oistrakh, Maria Grinberg und Viktor Knuchevitzky genoss und sich ihre Lieder in der Sowjetunion großer Beliebtheit erfreuten, blieben die Werke Zara Levinas im Westen lange Zeit völlig unbekannt. Daran änderten auch ihre prominenten Nachfahren nichts: Zara Levinas Enkelin Katia Tchemberdji ist Komponistin und Pianistin und lebt seit 1990 in Berlin; noch bekannter ist der Enkel Alexander Melnikov, der als Pianist international sehr erfolgreich ist.

Die meisten Kompositionen Zara Levinas erschienen nicht auf Tonträger oder blieben als nationale Produktionen dem sowjetischen Markt vorbehalten. Mehr als eine Überraschung ist darum jetzt die Veröffentlichung ihrer beiden Klavierkonzerte in einer Neuaufnahme vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) unter Ariane Matiakh mit der wundervollen Maria Lettberg als Solistin. Die in Berlin lebende schwedische Pianistin konnte bereits mit ihrer Gesamtaufnahme der Klavierwerke Skriabins (auf Capriccio, C49586) für einiges Aufsehen sorgen.

Zara Levinas Klavierkonzerte entstanden an zwei emotional und zeitlich entgegengesetzten Punkten ihrer Karriere. Das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 aus dem Jahre 1942 ist klassisch-romantisch dreisätzig, in sich geschlossen und homogen, dabei rein tonal gehalten. Der kraftvolle und virtuose Solopart erinnert an Sergei Rachmaninoffs Klavierkonzerte. Die Orchestrierung steht in der besten russischen Tradition Rimsky-Korsakovs. Nach schwierigen Jahren der künstlerischen Bevormundung durch stalinistische Kulturapparatschiks waren die Kriegsjahre für viele Künstler paradoxerweise eine Zeit der Freiheit. Das Klavierkonzert spiegelt diesen Optimismus mit ungebrochener Lebensfreude wider.

Das einsätzige Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 aus dem Jahre 1975 war Zara Levinas letztes und ihr (vermutlich) bestes Werk. Kurz vor ihrem Tod komponierte die schwer herzkranke Levina ein zerrissenes Stück voll düsterer Todesahnung. Statt virtuoser Passagen dominieren fragmentarische Solo-Sequenzen; statt bunter Orchesterfarben erklingt die Begleitung gedämpft, fast kammermusikalisch. Ein absteigendes chromatisches Hauptmotiv, das an den Verfall des Lebens zu erinnern scheint, wird fast manisch wiederholt, ja geradezu eingehämmert. Dazwischen schieben sich bald schnelle, bald melancholische Sequenzen wie Erinnerungen in die Partitur. Ein Konzert wie ein wehmütiger, beklommener Rückblick auf ein erlöschendes Leben.

Wie dramatisch, wie farbenfroh, wie berührend und wie originell diese beiden Klavierkonzerte sind, wird durch die beispielhafte Umsetzung auf diesem Album erst so richtig deutlich. Kaum sind die ersten furiosen Akkorde des ersten Klavierkonzerts verklungen, bereitet das wandlungsfähige Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der engagierten Leitung der französischen Dirigentin Ariane Matiakh Maria Lettberg einen perfekten Klangteppich für diese beiden außergewöhnlichen Konzerte. Das im Grundton warme, in der Ausführung kammermusikalisch wendige RSB musiziert die unbekannten Konzerte, als hätte man die letzten 50 Jahre kein anderes Repertoire von den Berlinern gehört. Maria Lettberg spielt die Soloparts mit unglaublicher Souveränität und der Selbstsicherheit, die man als Solistin nur vermitteln kann, wenn man sich ganz und gar auf ein Werk eingelassen hat. Dies sind zwei furiose Plädoyers für die immer noch viel zu oft (und hinter vorgehaltener Hand) als zweitrangig abgetanen Komponistinnen des 20. Jahrhunderts.

Es ist verblüffend, wie viel Talent der sowjetische Musikkosmos trotz (oder gerade wegen?) der permanenten Bevormundung durch den Staat zu bieten hatte. Die „Unfreiheit“ sah man im Westen lange Zeit als Stigma und als Zeichen für die Minderwertigkeit und Rückständigkeit der „Ostblock-Musik“ an. Dieses Album belegt nicht nur das individuelle Können Zara Levinas, sondern auch, dass es noch jede Menge musikalische Bereicherungen aus der zweiten und dritten Reihe hinter den Schostakowitschs und Prokofievs zu entdecken gilt.

Published inAlben vorgestellt

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