Nahezu jedes unvollendete Werk eines großen Meisters birgt ein Geheimnis in sich: Wie hätte der Komponist das Stück zu Ende geführt und – im Falle „Der Kunst der Fuge“ Johann Sebastian Bachs – für welche Besetzung ist das Werk intendiert? Bereits kurz nach dem Tode Bachs begannen die Spekulationen und sind bis heute Gegenstand akribischer Studien und mitunter kontrovers geführter musikwissenschaftlicher Diskussionen. Eine abschließende Antwort kann es natürlich nicht geben – das liegt in der Natur der Dinge.
Hans-Eberhard Dentler entstammt einer gebildeten, großbürgerlichen badischen Familie aus Lindau am Bodensee. Trotz eines erfolgreich abgelegten medizinischen Staatsexamens und einer Promotion zum Dr. med. entschied sich Dentler für die musikalische Laufbahn. Als Schüler von Pierre Fournier erlernte Dentler bereits während seines Medizinstudiums nicht nur die Geheimnisse des besonders sanglichen Cellospiels seines Lehrers, sondern übernahm auch dessen Liebe und besondere Beziehung zu Bachs Musik. Fourniers Aufnahmen der Bachischen Cellosuiten (1960) gehören zu den herausragenden Aufnahmen der Schallplattengeschichte.
Dentler wurde ein erfolgreicher Kammermusiker und wanderte mit seiner Frau in die Toskana aus. Dort gründeten die beiden eine Bachgesellschaft und ein eigenes Kammerensemble. „Die Kunst der Fuge“ sollte den Cellisten sein halbes Leben beschäftigen. Bereits 2000 veröffentlichte er sein Buch „Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“ – Ein pythagoreisches Werk und seine Verwirklichung“ zunächst auf Italienisch, 2004 dann in erweiterter Auflage auf Deutsch. Die Erkenntnisse aus dieser interdisziplinären Analyse münden in die nun vorliegende Aufnahme der „Kunst der Fuge“, die er mit seinem Ensemble L’Arte della Fuga in der (für ihn) definitiven Besetzung ‘Violine – Viola – Violoncello – Fagott – Kontrabass’ aufgenommen hat.
Dentlers Fassung ist, auch ohne theoretischen Unterbau, in sich schlüssig und bietet dem Hörer das, was viele musikwissenschaftlich ausgerichtete Einspielungen und Rekonstruktionen der letzten Jahre etwas aus den Augen verloren haben: Sie offenbart auch ohne besondere Kenntnis des Notentextes (oder gar der mathematischen und philosophischen Botschaften) sowohl die kontrapunktische Struktur als auch ihr „musikalisches Geheimnis“. Und sie ist bemerkenswert klangschön (und damit äußerst durchhörbar) ohne in irgendeiner Weise die barocke Ordnung des Werks durch einen romantisierenden Wohlklang zu ersetzen (wie es bei vielen Klavieraufnahmen der Fall ist). Ich habe schon lange nicht mehr mit solcher Freude die „Kunst der Fuge“ gehört. Die über 100 Minuten Spielzeit vergehen fast wie im Flug, und wenn am Ende der unvollendeten „Quadrupelfuge“ die Musik einfach abbricht, wird man aus einer tiefen Trance gerissen. Wie tragisch, dass dieses Stück unvollendet blieb, gleichzeitig kann man dankbar sein, dass Hans-Eberhard Dentler darauf verzichtet hat, der Fuge etwas „Nachkomponiertes“, Unechtes hinzuzufügen.
Die Besetzung des Ensembles L’Arte della Fuga verdient noch einmal eine besondere Erwähnung. Es setzt sich aus der Crème de la Crème italienischer Orchestermusiker zusammen: Der Violinist Carlo Parazzoli, der Bratschist Raffaele Mallozzi, der Fagottist Francesco Bossone und der Kontrabassist Antonio Sciancalepore sind die jeweiligen Stimmführer des Orchesters der Accademia Nazionale di Santa Cecilia, dem wohl renommiertesten italienischen Klangkörper. Die Makellosigkeit ihres Spiels und ihre langjährige Erfahrung als Kammermusiker in diesem Ensemble tragen in nicht unerheblichen Maße zur Faszination dieser Deutung bei.
„Die Kunst der Fuge – in der Fassung von Hans-Eberhard Dentler“ erscheint, nicht zuletzt aus Anlass des 15-jährigen Jubiläums des Labels OehmsClassics, sowohl als schön gestaltete Doppel-CD als auch als luxuriös ausgestattetes Dreier-Vinyl-Album. Die Veröffentlichung gehört, ganz gleich, ob man Dentlers pythagoreischen Theorien folgen mag oder nicht, zu den kammermusikalischen Höhepunkten des Jahres.
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