Gustav Mahlers großartige Sinfonik wäre ohne seine Orchesterlieder undenkbar. Das Verschmelzen der Stimme mit einem großen Orchesterapparat ist ein essenzieller Bestandteil der Klangsprache Mahlers, mehr noch: Aus den Volkstänzen und Volksliedern seiner Heimat zog Mahler die Inspiration, oft genug auch die Rhythmen und Melodien seiner Werke. Sein Freund und Förderer, der Dirigent Willem Mengelberg, formulierte es so: „Der Kern der Mahlerschen Musik ist das Volkslied.“ Er flocht immer wieder einzelne Lieder in seine Sinfonien ein, er schuf sogar mit „Das Lied von der Erde“ eine ganze „Orchesterlied-Sinfonie“.
Neben den Gedichtvertonungen aus „Des Knaben Wunderhorn“, die Mahler zwischen 1892–1901 komponierte, gibt es drei bedeutende Orchesterlied-Zyklen bzw. Sammlungen aus seiner Feder: die frühen „Lieder eines fahrenden Gesellen“ (1884/95), die „Rückert-Lieder“ (1901/02) und die „Kindertotenlieder“ (1901–1904). Die Creme de la Creme der Sänger hat sich in den letzten Generationen mit den Werken beschäftigt, mehrheitlich männliche Interpreten, etwa Dietrich Fischer-Dieskau, Thomas Hampson, Christian Gerhaher, Christoph Prégardien und Thomas Quasthoff. Bedeutende Aufnahmen kamen allerdings auch von Sängerinnen. So stehen die Interpretationen von Christa Ludwig, Margaret Price, Kathleen Ferrier und Brigitte Fassbaender den der männlichen Kollegen in nichts nach.
Das Nederlands Philharmonisch Orkest unter dem deutschen Dirigenten Marc Albrecht hatte bereits im Frühjahr 2013 eine allenthalben begeistert aufgenommene Einspielung von „Das Lied von der Erde“ (Pentatone PTC5186502) vorgelegt. Die englische Mezzosopranistin Alice Coote war damals im Wechsel mit dem deutschen Tenor Burkhard Fritz zu hören. Alice Coote hat auch den Gesangspart des neuen Albums „Mahler: Song Cycles“ übernommen, auf dem die „Lieder eines fahrenden Gesellen“, die „Rückert-Lieder“ und die „Kindertotenlieder“ zusammengefasst sind. Die Aufnahmen entstanden im November 2015 und Juni 2016 in der NedPho-Koepel der umgebauten Gerardus Majellakerk in Amsterdam. Die ehemalige katholische Kirche ist die Heimstätte des Orchesters und verfügt über eine hervorragende Akustik, die dank der exzellenten Sachkenntnis der Pentatone-Tontechniker perfekt eingefangen wurde.
Diese ausgezeichnete Aufnahmetechnik ist auch Ausgangspunkt für die nuancierte Deutung von Albrecht und Coote, die dynamische Extreme, vor allem im Piano- und Pianissimo-Bereich nicht scheuen, im Gegenteil: Es gibt Moment leisester, zerbrechlichster Zartheit, wo Gesang und Orchester kaum mehr als ein Hauch sind, dann wieder steigt das Orchester kraftvoll und farbenreich ein. Alice Cootes Gesang ist mehr Solo-Instrument als Rezitation. Ihre Intonation ist durchaus ordentlich, aber eben nicht sezierend, darauf kommt es auch nicht an. Cootes Stimme vermittelt Gefühle, Gemütszustände, psychologische Einblicke, sie scheut keinen Schmerz, keine Düsternis. Ihr Gesang ist dabei stets natürlich, authentisch und individuell, ein Textverständnis ist nicht zwingend notwendig. Der für Mahler typische Kontrast der schönen Traumwelt, die auf eine grausame Realität stößt, ist so plastisch, bisweilen so erschütternd dargestellt, dass man als Hörer ein ums andere Mal um Fassung ringt.
Coote und Albrecht haben die Musik Mahlers so sehr verinnerlicht, dass sie aus ihnen selbst zu sprechen scheint. Das macht diese Mahler-Lieder-Einspielungen zu etwas Besonderem. Sie bilden nicht ab, sie drücken aus. Mahler kann man nicht klinisch korrekt wiedergeben, Mahlers Musik lebt von der Vermittlung von Drama, Kraft, Glück, Trauer, manchmal sogar Wut und Verzweiflung. Coote und Albrecht ist es gelungen, die Musik Mahlers mit unmittelbaren, authentischen Gefühlen umzusetzen, fast so, als sei sie just in diesem Moment erdacht worden.
Auf naxos.de findet man verschiedene empfehlenswerte digitale und physikalische Bezugsquellen.
Schreibe den ersten Kommentar