Machen wir uns nichts vor: Die wenigsten Bearbeitungen reichen an das Original heran. Etwas scheint (fast) immer verloren zu gehen, wenn man einen Teil der ursprünglichen Idee des Komponisten verändert. In seltenen Fällen gelingt es dem Bearbeiter, den Geist des Schöpfers zu erfassen und etwas Ebenbürtiges zu schaffen. In ganz seltenen Fällen entsteht etwas Neues, Kongeniales, das sowohl die eigentliche Handschrift des Komponisten transportiert als auch einen eigenen Gedanken des Bearbeiters. Diese seltenen Transkriptionen schließen dem Hörer wohlbekannte Werke neu auf, gewinnen ihnen Nuancen ab, die zuvor verborgen blieben.
Rudolf Barschais Bearbeitungen der Streichquartette Dmitri Schostakowitschs zu „Kammersinfonien“ sind solch seltene Glücksfälle kongenialer Transkriptionen. Sie vermitteln Schostakowitschs psychologische Introspektionen unversehrt (denn nichts anderes sind die Streichquartette), Barschais Bearbeitungen addieren aber noch eine weitere dramatische Ebene, die aus Schostakowitschs privaten Ansichten eine allgemein gültige, universelle Aussage hinzufügen. Sie „übersetzen“ dem Kammermusik-ungeübten Hörer Schostakowitschs Subtilität in eine geradezu überwältigende Klangsprache.
Bisher galten Barschais eigene Aufnahmen der fünf Kammersinfonien Schostakowitschs (Bearbeitungen der Streichquartette Nr. 1, 3, 4, 8 und 10) als unangefochtene Referenzaufnahmen „aus erster Hand“. Nun hat der russische Dirigent Dmitry Yablonsky nach einer ersten CD mit den Bearbeitungen der Quartette Nr. 1, 4 und 8 („Three Chamber Symphonies“, Naxos 8.573466) eine zweite CD mit den fehlenden beiden Transkriptionen vorgelegt: der Kammersinfonie für Kammerorchester mit Holzbläsern, Harfe und Celesta, op. 73a (nach dem Quartett Nr. 3) und der Kammersinfonie As-Dur für Streichorchester, op. 118a (nach dem Quartett Nr. 10). Yablonskys Deutungen stehen in ihrer Authentizität und Intensität Barschais eigenen Einspielungen in nichts nach, mehr noch: Yablonsky gelingt es sogar, den Partituren einige neue Akzente abzugewinnen: Das Ergebnis ist nichts Geringeres als ein regelrechtes Fest für Schostakowitsch-Fans, vor allem für jene, die einen satten, leuchtenden Ensembleklang wie den der exzellenten Kiev Virtuosi zu schätzen wissen.
Yablonsky schafft es, die Beklommenheit und Ausweglosigkeit der Quartett-Vorlagen Schostakowitschs in seine Deutung der Barschai-Bearbeitungen fließen zu lassen. Dabei entfernt er sich (paradoxerweise) hie und da von den üblichen Tempi der Vorlagen, etwa beim eröffnenden „Allegretto“ des Opus 73a. Statt eines (angeblich) verspielt-unbeschwerten Satzes wählt Yablonsky ein verschlepptes, verlangsamtes Tempo, das gegen Ende merklich anzieht, fast so, als wolle er damit die angebliche „gute Laune“ wie in einer Vorahnung des dämonischen dritten Satzes, einem Scherzo mit schneidenden, teuflischen Streichern, andeuten.
Ist es zu plakativ gedacht, wenn man die mitreißende Intensität des Spiels des ukrainischen Kammerensembles damit zu erklären versucht, dass sich die Ukraine heute ebenso drangsaliert, verfolgt und traktiert fühlt, wie es einst Schostakowitsch im Angesicht der stalinistischen Kultur-Apparatschiks ergangen sein muss? Da ist etwas geradezu Klaustrophobisches im Spiel der Kiewer Musiker, das diesen Schluss nahelegt. Ich kann mich nicht erinnern, Schostakowitschs so persönliche Musik (im Gewand der Barschai-Bearbeitungen) von einem „post-kommunistischen Ensemble“ (oder gar einem westlichen!) so eindringlich musiziert gehört zu haben, wie in dieser Aufnahme. Es ist erschreckend, wie aktuell Schostakowitschs hoffnungslose Verbitterung und Zukunftsangst heute noch klingen kann.
Ich halte Barschais Bearbeitungen für essenzielle Bestandteile des Œuvres von Dmitri Schostakowitsch. Wer noch keine Aufnahme dieser Bearbeitungen hat, oder wer auf der Suche nach klanglich und interpretatorisch kompromisslos begeisternden Aufnahmen ist, dem sei dieses Album (und der Vorgänger, s. oben) wärmstens empfohlen.
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