Er nennt es „gutes Karma“ – und vielleicht ist es genau das. Auf jeden Fall scheint es mir, als ob Huang Ruo seiner Umwelt ungewöhnlich intensiv begegnet – wie wenn er die Leute, die er trifft, seinem kreativen Universum einverleiben würde.
Ich habe ihn eigentlich nur vom gelegentlichen Grüßen – stets auf seine höfliche und freundliche Art –im Korridor von Juilliard gekannt. Meistens sind wir uns auf der Suche nach dem praktisch nicht aufzutreibenden freien Übungsraum im vierten Stock begegnet.
An einem von David Dubals beliebten Abendseminaren hörte ich einmal eine hervorragende Klavierperformance von Huang Ruo; das Klavier steht jedoch nur für eine der vielen Komponenten, mit denen er seiner musikalischen Welt Ausdruck verleiht.
Sein junges und frisches Oeuvre enthält einige hoch gepriesene Kompositionen, in denen er Gesang mit Instrumentalmusik und manchmal auch anderen Medien vereint. In seinen Partituren erkundet und vereint er musikalische Elemente aus östlicher und westlicher Tradition.
Ich habe mich oft gefragt, wie der „Schmelztiegel“ aus internationalen Studenten und Lehrpersonen, wie es die berühmte Juilliard-Schule ist, auf jemanden wie Huang Ruo wirkt, der aus einem so fremden und fernen Ort wie China kommt.
Dieser starke und einflussreiche traditionelle Kulturhintergrund muss in einem großen Gegensatz zu dem stehen, was einem an einer städtischen Schule in Amerika begegnet, zudem in einer Stadt, die so überaus intensiv ist wie NY. Und so stellt sich die Frage: Was muss jemand hinter sich lassen, um sich an die neue Umgebung anzupassen, und wo wird man ermutigt, den eigenen Hintergrund und die kulturellen Traditionen einzubeziehen?
Für einen Komponisten vom Range Huang Ruos haben diese Herausforderungen offensichtlich die Entwicklung seiner komplexen Musik gefördert, einer Kunst, in der er eine überzeugende Symbiose zwischen seinem asiatischen Kulturerbe und den westlichen, neu erprobten „Kontrapunkten“ kreiert.
Geboren wurde Huang Ruo 1976 auf der Insel Hainan in China. Bereits mit zwölf Jahren wurde er am Konservatorium Shanghai aufgenommen.
Nachdem er den Henry Mancini-Preis des Internationalen Film- und Musikfestivals 1995 in der Schweiz gewonnen hatte, zog er in die USA, um seine Ausbildung zu vertiefen und zu ergänzen. Er schloss mit einem Bachelor in Musik am Oberlin-Konservatorium ab und kam dann zu Juilliard, wo ihm zunächst der Mastertitel in Musik und danach der Doktortitel in Musikkomposition verliehen wurde. Unter seinen Kompositionslehrern finden sich berühmte Namen wie Randolph Coleman und Samuel Adler.
Er hat mit vielen Künstlern zusammengearbeitet, auch grenzüberschreitend mit „benachbarten“ Institutionen und Genres, wie zum Beispiel mit dem Solotänzer des New York City Ballet, Damien Wetzel, und dem Choreographen Christopher Wheeldon, aber auch mit dem Bewegungskünstler Norman Perryman.
Die Nähe der „School of American Ballet“, deren Studenten einige Räume sowie die Cafeteria mit den Musik- und Theaterabteilungen der Juilliardschule teilen, hat sicherlich die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Kunstfächern begünstigt und gegenseitige Bekanntschaften und Beziehungen ermöglicht, die unter Umständen für Karrieren vorteilhaft sein können.
Heute hält Huang Ruo die Verbindung mit Juilliard als Lehrer an der Pre-College-Abteilung aufrecht, obwohl er im Moment auch Mitglied der Abteilung für Komposition am SUNY Purchase College ist.
Für unser Interview, treffen wir uns in seiner Alma Mater Cafeteria, die auch einer meiner liebsten Orte ist, um mit andern Musikern zusammenzusitzen und mich mit ihnen über Musik und das Leben zu unterhalten.
Es stellt sich heraus, dass der größte Einfluss in Huang Ruos Leben, lange bevor er mit formalen östlichen oder westlichen Studien in Berührung kam, sein Vater war. Selbst ein Komponist traditioneller chinesischer Musik, vermittelte er Huang bereits zu Hause, was er über Musik wusste. So brachte Huang Ruo also nicht nur Teile der allgemeinen chinesischen Kultur mit, wie es viele seiner Generation tun, die aus Asien zur Weiterbildung in den Westen kommen, sondern er verfügte insbesondere auch über eine lebendige Vorstellung von traditioneller chinesischer Musik.
Er erinnert sich: „Als ich klein war, versuchte ich, meine eigene Musik zu schreiben. Ich war sehr stark von meinem Vater beeinflusst und wollte ihn beeindrucken, aber ich wollte auch meine eigene Musik schreiben. Er sagte immer zu mir: „ Du wirst ein Komponist werden wie ich“, denn er war sehr stolz auf mich, auch wenn es eine Weile brauchte, bis er meinen Zugang zum Komponieren verstand. Er meinte immer, dass meine Musik zuwenig chinesisch sei, denn er verstand das Konzept zeitgenössischer Musik und ihrer westlichen Einflüsse nicht. Aber eines Tages änderte sich das alles, als ich ihm eine Aufnahme des Geigers Cho-Liang-Lin schickte, der meine Komposition uraufführte. „Omnipresence“ ist ein Konzert für Sologeige, mit dem Ensemble und Orchester off-stage, also hinter der Bühne. Es wurde 2003 uraufgeführt. Meine Schwester rief mich an, um mir zu sagen, dass sie sich um meinen Vater Sorgen mache, denn er hatte sich in einem Zimmer eingeschlossen und hörte sich den ganzen Tag diese Aufnahme meines Violinkonzertes an. Nach dieser Erfahrung schrieb er mir, dass er endlich begonnen habe, das Wesen meines Komponierens zu verstehen und es auch zu schätzen – nach all diesen Jahren! Durch mein Violinkonzert konnte er einen Zugang zu meinen Ideen finden, auch wenn sie sich von seinen Ideen unterschieden und ihm, verglichen mit seinem eigenen Kompositionsstil, fremd waren.“
Es ist genau dieses Gefühl für die innovative Überbrückung von Gegensätzen zwischen Kulturen und Generationen, das dem Werk von Huang Ruo dieses individuelle und unverwechselbare „Flair“ verleiht: das östliche Kulturerbe, das mit der westlichen Ausbildung und den Kompositionstechniken untrennbar verschmolzen ist. Diese originelle Kombination macht seine Schöpfungen so enorm spannend und führt immer wieder zu verschiedenen Gelegenheiten, seine Werke erfolgreich aufzuführen und einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Ich versuche zu begreifen, inwieweit die chinesische Kultur seine Kompositionen direkt beeinflusst, und er erklärt: „Ich versuche nie bewusst meinen Standpunkt zu definieren. Ich mache, was ich spüre und woran ich glaube. Ich kann meine Herkunft nicht verleugnen, meine Kultur ist immer präsent. Ich spreche vier chinesische Dialekte, und ich habe keine Angst davor, chinesische Elemente zu benützen, aber nicht auf eine künstliche Art. Es ist mir wichtiger, dass das, was ich mache, einen neuen Inhalt hat. Den Ausdruck, den ich dafür erfunden habe, “Dimensionalismus“, versucht Verbindungen zwischen Raum, Zeit und Klang zu erfassen. Dieser Begriff steht auch in Verbindung mit Architektur und moderner Kunst allgemein, die ich übrigens sehr liebe.
Die Struktur der zweidimensionalen Kunst schreit meiner Meinung nach geradezu danach, durch tiefgründigere Erfahrungen, als auf der Leinwand sichtbar sind, ins rechte Licht gerückt zu werden. In der Architektur finde ich so viel Neues. Sie ist eine Kunstform, die sich selber immer wieder neu erfindet, indem sie den Bezug zur Umwelt ständig verändert – nicht nur äusserlich, sondern auch innerlich. Ich denke über Musik auf dieselbe Art nach, in vier Dimensionen, nämlich Raum, Zeit, Farbe und Klang. Ich spüre, dass Musik Leben ist, Atmen und Bewegung. Wenn du in einer Aufführung vor der Bühne sitzt, dann bist du gefangen. Man sollte um die Musikquelle herumgehen können oder von ihr umgeben sein. Aber weil der Ton sich auch bewegt, stelle ich mir lieber vor, dass Klang etwas Festes ist, und versuche dies mit abstrakten Formen und Farben zu beschreiben. Wenn man es durch wechselndes Licht sähe, dann würde sich die Erscheinung andauernd ändern und eine Vielfalt unendlicher Möglichkeiten schaffen.“
Das Chelsea Art Museum in New York wird eine Installation von Huang Ruos Komposition in Zusammenarbeit mit der griechischen Künstlerin Christina Mamakos zeigen, sie ist in New York von Ende Juni bis Ende Juli zu sehen, gefolgt von einer Ausstellung in Athen, Griechenland.
Huang Ruo beschreibt die Installation folgendermassen: „Christina hat das Meer auf Video aufgenommen, mit einer schlichten tragbaren und wasserdichten Digitalkamera. Die Aufnahme suggeriert die Oberfläche des Meeres von unten (…) Wenn man den Raum betritt, verändert sich die Erfahrung davon, was es bedeutet, sich im Wasser zu befinden. Die Sicht des Meeres von unten nach oben, die Veränderung der Sichtweise und des Tons, der aus vier Lautsprechern in den Raumecken kommt, wird einen Effekt jenseits der Realität haben, ein abstraktes Gefühl von „im Meer sein“, nicht vor einem Kunstwerk oder ihm gegenüber, sondern in einem Kunstwerk.“
Christina Mamakos beschreibt Huang Ruos “Dimensionalismus“-Technik so: Ruo schafft eine nahtlos ineinander übergehende Serie von musikalischen Werken, indem er seine Musik eine neue Stimme gibt, die gleichermassen von chinesischer Volksmusik, westlicher Avantgarde-Musik, Rock und Jazz inspiriert ist. Diese Musik existiert nicht notwendigerweise in der Klangwelt unseres täglichen Lebens (…) Die visuelle Klanginstallation erzeugt einen multidimensionalen Raum, in dem Bild und Ton vom einen zum andern fließen, indem sie auf einander reagieren und so einen Charakter erzeugen, der unmittelbar als Naturelement erkennbar wird und dennoch ein unbekanntes, aber eindeutiges Geschöpf mit einer Stimme, einer Sprache und einem Willen ist.“
Das Miller-Theater der Columbia Universität hat ihn im Jahre 2003 in seiner Reihe „Porträts von Komponisten“ vorgestellt, wo auch das „International Contemporary Ensemble“ (ICE) unter Huan Ruo als Dirigenten seine vier Kammerkonzerte als Zyklus uraufgeführt haben. Allan Kozinn, Kritiker der New York Times, stufte dieses Konzert als das zweitbeste auf seiner Liste der zehn besten klassischen Aufführungen im Jahre 2003 ein. Der Link dazu findet sich auf der Website von Ruos Vertrieb: http://www.presser.com/composers/info.cfm?Name=Huangruo
Allan Kozinn, der wiederholt über die Kompositionen von Ruo in der New York Times berichtete, stellte zur Beziehung zwischen Ost und West fest: „Wie in vielen seiner Partituren vermischen sich chinesische Artikulationsweisen – gleitende Noten und elegant sich biegende Töne – frei mit westlichen Rhythmen und diatonischen Harmonien.“
Das chinesische Element ist manchmal thematisch eingebunden, wie im Falle seiner Komposition „Leaving Sao“ für Sopran oder chinesische Volksmusikstimme und Kammerorchester, über das Anthony Tommasini in der New York Times berichtete: „ Das faszinierende „Leaving Sao“ von Huan Ruo für Vokalstimme und Orchester, eine Gedenkarbeit aus dem Jahre 2004 für die Großmutter des Komponisten, war ein verlockendes Patchwork von asiatischen Volksmelodien und westlichen klassischen Elementen. Huang war der gekonnt ausführende Solist, er sang in einer hohen Tonlage, in einem sozusagen klagenden, chinesischen Volksmusikstil.“
2008 wurde ihm der erste Preis des prestigeträchtigen internationalen Luxemburger Kompositionswettbewerbs verliehen.
2009 wurde das chinesische Musikfestival „Ancient Paths – Modern Voices“ (alte Wege – moderne Stimmen an verschiedenen Orten in diversen Stadtteilen und Bezirken New Yorks abgehalten. Es diente der Vorstellung und Erkundung chinesischer Kultur und ihres Einflusses auf die jüngere und westlich aufgewachsene Generation. Am 5. November 2009 sprach Huang Ruo, als Teil des Festivals, am China-Institut über die Integration chinesischer Volksmelodien in westliche Orchestermusik.
Huang Ruos Werke umfassen Orchester- und Kammermusik, Oper, Theater, modernen Tanz, Klanginstallationen, Multimedia- und experimentelle Improvisation, Folk-Rock und Film.
Kürzlich wurde im New Yorker als „einer der faszinierendsten Komponisten der neuen Generation asiatisch-amerikanischer Komponisten“ bezeichnet.
Ebenfalls im Jahre 2009 kamen zwei Soundtracks von Huang Ruo heraus, nämlich zu den Filmen „Emperor’s New Garden“ und „Stand up“.
Seine neueste Filmmusik begleitet den PBS-Dokumentarfilm „I. M. Pei: Building China Modern“, aus der Reihe ‚American Masters’. Dieser Dokumentarfilm geht der Frage nach, wie traditionelle Elemente der chinesischen Architektur angemessen in eine westliche Formensprache umgewandelt werden können.
„Für jene, die vom Verlust traditioneller Formen in der architektonischen Identität beunruhigt sind, ist er {I.M.Pei} zu modern. Für jene, die Chinas Vergangenheit einfach dem Erdboden gleichmachen würden, ist er zu traditionell. „I. M. Pei baut das moderne China“ aus der ‚American Masters’-Reihe spürt Peis Bestreben nach, diesen „unmöglichen Traum“ zu verwirklichen, nämlich Moderne und Tradition, aber auch regionale Einflüsse in seinem Werk zu vereinen, (…) und erforscht die prägenden Konflikte unserer Zeit – die Verführung der Moderne im Gegensatz zu der Anziehungskraft der Geschichte (…)“
Quelle: PBS American Masters
Es leuchtet absolut ein, dass Huang Ruo ausgewählt wurde, um die Partitur für diesen Film zu schreiben. Er beschreibt die Arbeit an diesem Dokumentarfilm als eine „echt fantastische Erfahrung“. Auf der Grenzlinie zwischen Tradition und Moderne balancierend, ist auch er ein Anhänger des „unmöglichen Traumes“ – dem Traum von der Versöhnung oft gegensätzlicher Kräfte durch die Musik.
Der Dokumentarfilm ist auf der PSB-Website „American Masters“ zu sehen, und zwar noch bis zum 30. Juni 2010.
Mehr zu Ruo Huang und seine Naxos-Veröffentlichungen finden Sie hier:
Schreibe den ersten Kommentar