Die vielen Gesichter des Alfredo Casella
Wir hatten es bereits in einem Vorbericht (http://www.incoda.de/listener/artikel/191/mission-accomplished) angekündigt: Das Naxos-Label – stets auf der Suche nach Repertoirelücken und zu füllenden Nischen – hat wieder zugeschlagen und die drei Sinfonien des italienischen Komponisten Alfredo Casella in einem Zyklus vorgelegt. Den Abschluss dieser Gesamtaufnahme (die erste von Casellas Sinfonien in der Geschichte der Tonträgeraufzeichnung!) bildet die in diesen Tagen erschienene CD mit der dritten Sinfonie sowie der „heroischen Elegie“, der Elegia eroica, op. 29.
Alfredo Casella war und ist bis heute eine sehr umstrittene und auch ziemlich undurchsichtige Figur: Er folgte nicht nur der faschistischen Kulturästhetik des Mussolini-Regimes, er propagierte sie sogar aus vollem Herzen — und komponierte trotzdem Musik, die 1935 von den Nationalsozialisten als „unerwünscht“ einsortiert wurde und somit faktisch in den deutschsprachigen Ländern nicht mehr aufführbar war (vgl. Bochmann (2009): „Musik und Politik im faschistischen Italien“). Er war ein bekennender, laut lospolternder Antisemit und tat zum Teil herbe (mündliche sowie schriftliche) Äußerungen in diese Richtung — aber er heiratete eine französische Jüdin. Er verscherzte es sich aufgrund seiner unnachgiebigen Starrköpfigkeit mit vielen Musikerkollegen — wurde aber doch von allen, selbst von den größten Komponisten seiner Zeit, hoch geachtet; Casellas Werk wurde in jüngerer Zeit von so namhaften (und unzweifelhaft als „political correct“ einstufbaren) Dirigenten wie zum Beispiel Christopher Hogwood, Peter Maag, Michael Sanderling oder Alun Francis aufgeführt und aufgenommen.
Wie geht man also mit dem musikalischen Erbe einer so ambivalenten Persönlichkeit um? Wie soll man die Musik dieses Menschen im 21. Jahrhundert interpretieren, deuten, vermitteln?
Nur allzu oft lautete die Antwort von Interpreten, Konzertveranstaltern und CD-Labels auf diese Frage darin, die Werke Alfredo Casellas in den Nachkriegsjahren schlicht und ergreifend zu ignorieren. Dass dies nicht der richtige Weg sein kann, dürfte selbst ärgsten Kritikern einleuchten. Musik — gerade solche Musik, mit einem zeithistorischen Hintergrund — darf nicht zum puren Studienobjekt für die Theoriestuben der Musikwissenschaft werden. Sie muss für ein breites Publikum nachvollziehbar und erlebbar bleiben. Nur so kann sich ein jeder mit ihr auseinandersetzen und sich seine eigene Meinung dazu bilden.
Die nun von Naxos vorgelegte CD bietet dazu reichlich Anlass. Nicht nur zeigen sich auf ihr die „zwei Gesichter“ Casellas — nämlich das des Traditionalisten und das des Modernisten — selten so krass gegenübergestellt wie hier, sondern es ist mit der Elegia eroica auch ein Werk enthalten, dass als „Klage“ über die unbekannten gefallenen Soldaten des ersten Weltkriegs eine brisante Programmatik zum Ausgang hat.
Beginnen wir ruhig bei diesem Stück. Es zeigt Casella, den Modernisten. Stets an der Grenze der Tonalität wird ein Expressionismus gepflegt, den wir so oder ähnlich auch bei Ernst Krenek hören können und der klar macht: Casella war ein Grenzgänger, ein Wagender, ein Suchender und zur Not auch musikalisch (und nicht nur verbal) ein Extremer. Elegia eroica ist ein Stück, das aus heutiger Perspektive erschütternd gestrig wirkt, und zwar gerade dadurch, dass es zu seiner Zeit hochmodern gewesen sein muss. Es wirkt auf mich, wie eine Skulptur des italienischen Futurismus in einem Museum: Man erkennt den Willen zu unbedingter Modernität, doch gerade deshalb kann man es heute nicht mehr so ganz Ernst nehmen. Dennoch ist die Wirkung faszinierend für diejenigen, die etwas damit anfangen können..
Das Hauptwerk auf der vorliegenden Aufnahme ist natürlich Casellas dritte Sinfonie. Sie zeigt Casella, den Traditionalisten. In seltener, beinahe ungetrübter spätromantischer Klangfülle begegnet er uns einem hier. Lediglich im Scherzo (das mich manchmal an Schostakowitschs Zehnte erinnert) kommt wieder der Modernist durch. Man kann kaum glauben, dass ein Komponist, der so schwerfällige bombastische Klangmassen entwarf wie diese dritte Sinfonie, auch zu so grazilen Werken wie dem Ballett „La Giara“ in der Lage war oder zu den zauberhaft luzid orchestrierten neoklassischen Suiten „Scarlattiana“ und „Paganiniana“ oder dem ebenfalls luftig komponierten Violinkonzert. Casella erinnert mit dieser Sinfonie an die Klanggewalt Gustav Mahlers, ohne jedoch dessen Visionsgröße zu erreichen. Am Ehesten möchte ich hier als Vergleich die dritte Sinfone George Enescus heranziehen, die mit ähnlichen Klangmassen einhergeht und die auf ähnliche Art und Weise maskiert, welch filigraner Künstler dort eigentlich die Feder geführt hat.
Casellas Werk ist und bleibt nichts für jedermann. Sein Werk ist auf Idealisten angewiesen, die in seiner Musik eine Herausforderung und eine Übereinstimmung mit ihrer eigenen Musikempfindung sehen. Nimmt man diese Definition als Maßstab, so findet Casellas Musik in dem Orchestra Sinfonica di Roma unter der Leitung von Francesco La Vecchia eine ideale Umsetzung. Erst nach mehrmaligem Hören fällt auf, dass das italienische Orchester bei manch anspruchsvollem Part hörbar an der Grenze seiner Möglichkeiten musiziert, ohne jedoch diese Grenzen zu überschreiten. Francesco La Vecchia führt demnach ein durchdachtes und empfindsames Dirigat mit viel Gespür für eine ausbalancierte und durchhörbare Deutung der beiden Mammutwerke, die es aufgrund ihrer dichten Texturen dem Kapellmeister ganz sicher nicht leicht machen.
Eine kleine Enttäuschung ist allerdings der Klang der CD, der in den 1990er-Jahren wohl noch als gut durchgegangen wäre, bei welchem man aber heute feststellen muss, dass es in allen Belangen wirklich besser ginge. SO muss heute keine Klassikaufnahme mehr klingen. Bedenkt man, dass dies eine musikgeschichtlich wichtige Einspielung ist, so muss man den Verantwortlichen bei Naxos zurufen: Bei solchen Anlässen lasst bitte demnächst nicht das Orchester „mal selber machen“ (die CD wurde im orchestereigenen Studio eingespielt), sondern schickt bitte Eure allerbesten Leute hin!
Fazit: eine CD, nicht für jedermann; Musik eines unbequemen Zeitgenossen für Individualisten, nicht für die breite Masse. Interpretationen, die löblich und gut sind aber definitiv keinen Referenzcharakter beanspruchen können. Alfredo Casella hat zudem Charmanteres und vielleicht auch Besseres geschrieben, als die beiden Werke auf dieser CD, doch selten Unbequemeres. Es ist also eine Einspielung, auf die man sich einlassen muss und die sich nicht entdecken lässt, wenn man sich nicht auf sie einlassen kann. Ob einem das möglich ist (egal, ob wegen musikalischer oder politischer Unbequemlichkeiten), muss jeder für sich selbst entscheiden.
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