(Fast) perfekte Wiedergabe eines musikalischen Weltwunders
Er wurde bekannt als Mozarts ergiebigstes „Kreditinstitut“: Johann Michael von Puchberg, begüterter Tuchhändler im Wien des ausgehenden Rokoko. Puchberg, Freimaurerbruder Mozarts, ist diesem sicher oft über den Weg gelaufen. Die beiden haben sich offenbar gut verstanden.
Wenn wir eines lernen aus dem sehr informativen Booklet der bei Naxos brandneu erschienenen Neueinspielung von Mozarts Divertimento KV 563, dann das: Mozart war ein begnadeter Komponist aber wohl ein nicht so toller Billiard-Spieler. Billiard nämlich war das bevorzugte Spiel der Wiener „High Society“ des 18. Jahrhunderts, und Mozart war als gefragte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens — gewissermaßen als „Promi“ — scheinbar bei so mancher Partie der „oberen Zehntausend“ mit dabei. Als nachgewiesen gilt: Mozart verdiente zwar üppig, brauchte aber trotzdem ständig Geld. Warum?
Neben seiner Vorliebe für das Luxusleben allgemein (man fand z. B. Quittungen über vom Mittelmeer nach Wien gelieferte Meeresfrüchte in seinem Nachlass), lag es wohl an einer ausgeprägten Leidenschaft fürs Spiel. Und wer weiß es nicht: Spielschulden sind Ehrenschulden. Und in solchen Fällen musste dann eben Puchberg herhalten, der von Mozart in mindestens 21 Fällen um Kredit gebeten wurde. Die höchste Summe, um die Mozart Puchberg auf einen Schlag erleichtert hat, waren einmal 1000 Gulden — für manchen Wiener seiner Zeit mehr als ein Jahresgehalt!
Es wundert einen also nicht, dass Mozart sich einmal aufrichtig bei seinem Freund Puchberg bedanken wollte, und dies tat er mit einem Musikstück. Nun mag man aufgrund dieses Anlasses und wegen des Titels „Divertimento“ meinen, dass es sich bei diesem Geschenk, das später die Köchelverzeichnisnummer KV 563 erhalten sollte, um ein schnelles Gelegenheitswerk handeln könnte — „hingeschmiert“, wie Mozart gern selbst von einigen seiner Werke behauptete — doch dies ist nicht der Fall. Die Musikwissenschaft ist sich bereits seit Jahrzehnten einig: Das Divertimento in Es-Dur ist eines von Mozarts bemerkenswertesten Werken mit geradezu bodenlosem Tiefgang, herrlichen Melodien, der unvergleichlichen Mischung aus Frohsinn und Melancholie, die so nur Mozart hinbekommt. Nicht wenige Musikwissenschaftler sehen in dem Werk gar den Höhepunkt der Gattung Streichtrio schlechthin, das vielleicht sogar beeindruckendste Kammermusikwerk in der Zeit vor Beethovens späten Streichquartetten. Letztgenannter setzte sich übrigens nachweislich wiederholt und intensiv mit Mozarts Divertimento auseinander, wovon als konkreteste Hinterlassenschaft Beethovens Streichtrio op. 3 zeugt, bei dem sich der aus Bonn stammende Komponist ebenso wie sein Vorbild über die eigentlich dreisätzige Anlage des Divertimentos hinwegsetzte und ein gewagtes sechssätziges Konstrukt bildete.
Beethovens Streichtrio leidet im Übrigen ebenso wie Mozarts Divertimento, das ja im eigentlichen Sinne auch ein Streichtrio darstellt, seit der Uraufführung an fortgesetzter „Publikumsignoranz“. Dies ist nicht nur bedauerlich, sondern eine kulturelle Katastrophe, bedenkt man, welch fantastische Musik sich die meisten Gelegenheitsmozartianer hier entgehen lassen. Doch Mozarts Stück, das eben trotz seines Titels weit entfernt von der „Zerstreuungsmusik“ ist, die man im 18. Jahrhundert unter dem Namen „Divertimento“ gewöhnlich verbreitete, ist eigentlich ein harter Brocken: Es weist einen höchst ungewöhnlichen „Bau“ auf, bei dem sich die nobel und erhaben wirkenden ersten beiden Sätze beinahe zu krass von dem nachfolgenden Material abzuheben scheinen; es weist jedem Instrument, Geige, Bratsche und Violoncello, einen annähernd gleichberechtigten Part zu, weswegen die Melodiestimme öfters zwischen den Instrumenten wechselt; es weist im Andante einen Variationensatz auf, der (ähnlich wie es Beethoven später zur Perfektion trieb) aus einem denkbar schlichten Thema einen Vulkan feuriger Variationen in die Höhe treibt…
All dies sind Dinge, die dem Hörer nicht mal eben so „zufliegen“. Das wird sicherlich dazu beigetragen haben, dass KV 563 bis heute beim Publikum nicht allzu beliebt ist und, das sollte man nicht vergessen, von allen Werken Mozarts auch mit am wenigsten auf CD eingespielt wurde.
Noch ein Umstand ist bemerkenswert: Obwohl sich immer wieder die größten Interpreten an diesem Werk versuchten, sind doch ein ums andere Mal sehr enttäuschende Interpretationen dabei herausgekommen: Man denke an die auf dem Papier gut aussehende Einspielung von Yo-Yo Ma, Gidon Kremer und Kim Kashkashian bei Sony Classics — …die man aber nach dem Anhören echt vergessen kann und will! Und noch eine ganze Reihe anderer Aufnahmen kann man wirklich, getrost und wahrhaftig vergessen. Nur ein ganz kleiner, auserlesener Zirkel, zu dem für mein Dafürhalten auch das Ensemble „L’Archibudelli“ in der Besetzung Anner Bylsma, Jürgen Kussmaul und Vera Beths gehört (ebenfalls Sony Classics), schaffte es den einmaligen Charakter des gesamten (!) Stücks auf Tonträger zu bannen. Und das ist verdammt schwer, denn Mozarts Divertimento ist ein irritierendes Stück: Nur er versteht es, einem das scharfe Messer der Melancholie so sanft ins Herz zu stoßen, dass man in der Tat verwirrt ist, wenn später ein gänzlich unbekümmerter Ländler folgt. Doch trotzdem hängt hier auf unerklärliche Weise alles zusammen, „passt“ es am Ende doch. Aber es braucht einige Zeit, bis man „dahinter kommt“.
Um es gleich geradeheraus zu sagen: Die neue, für Naxos tätig gewordene, norwegisch-deutsche Besetzung von Henning Kraggerud, Lars Anders Tomter und Christoph Richter macht ihre Sache sehr gut. Im Gegensatz zu vielen vielen anderen Interpreten, haben die drei verstanden, wie dieses Stück zusammenhängt und als großes Ganzes atmet und funktioniert. Das zeugt von einer großen Ehrfurcht vor Mozarts Musik, die längst nicht alle an den Tag gelegt haben, die meinten, dieses musikalische Weltwunder einspielen zu können oder zu müssen. Sowohl Kraggerud als auch Tomter haben für Naxos und andere Labels übrigens schon zuvor sehr beachtliche Aufnahmen abgeliefert, von denen ich hier als Nebensatz vor allem das Violakonzert von William Walton mit Lars Anders Tomter erwähnen möchte.
Dennoch gibt es natürlich etwas zu mäkeln, denn man merkt, dass diese Trio-Besetzung eben kein Trio ist. Soll heißen: Hier kommen drei wunderbare Musiker zusammen und geben ihr Bestes, doch man hört, dass das eine zusammengewürfelte Mannschaft ist. Der „Teamgeist“, wie ihn z. B. „L’Archibudelli“ jederzeit verströmen, kommt vor allem in den ersten beiden Sätzen des Divertimento dann und wann ins Wanken, wenn Kraggerud, der einen recht „scharfen“ Geigenton bevorzugt und der betont samtpfötige Lars Anders Tomter auch in Sachen der Feinrhythmik, die bei diesem Stück so wichtig ist, weil die Melodiestimme schon einmal von einem Instrument auf’s andere „überspringt“, nicht immer den gleichen Weg einschlagen. Besonders gut gelingt der norwegisch-deutschen Kammermusikformation aber der Variationensatz, den ich noch nie — und ich sage das gern noch mal in aller Deutlichkeit: noch nie!!! — so schön und im wahrsten Sinne des Wortes „variationenreich“ gehört habe. Ein Grund hierfür ist auch der wieder einmal sehr (!) schöne Klang dieser Naxos-CD, der genau das richtige Maß an Hall mitbringt, um die Aufnahme nicht staubtrocken wirken zu lassen. Die Instrumente sind zudem in ganz klassischer Weise hervorragend verortbar, was den bei vielen Klassikhörern beliebten Effekt mit sich bringt, dass man die Musiker vor sich sitzen zu meinen glaubt, wenn man die Augen schließt. Sicherlich habe ich schon hoch auflösendere und räumlichere Aufnahmen gehört, doch diese CD zählt in Sachen Tontechnik definitiv mit zur Spitze des Verfügbaren.
Fazit: Für den niedrigen Preis dieser CD gibt es derzeit nichts Besseres am Markt! Nicht nur für Mozart-Einsteiger sondern auch für die „etablierten“ Mozartianer, die den Vorstoß in das reiche Kammermusikschaffen des Komponisten wagen wollen, bieten Kraggerud, Tomter und Richter hiermit genau die richtige Gelegenheit — und das bei einem schön aufgenommenen Klang, der (auch das sollte mal erwähnt werden) die einem die offenbar vorzüglichen Instrumente der drei Interpreten geradezu plastisch vor Augen führt. Wirklich ein Genuss!
Die kleinen Mängel, die es hier fraglos gibt, sind vernachlässigbar und halten mich nur mit Mühe davon ab, hier fünf Punkte zu vergeben. Aber fünf Punkte heißt bei uns nun mal „perfekt“ und die vorliegende CD ist zwar nahe dran, aber eben doch nicht ganz… Deswegen: Vier Punkte mit „Sternchen“.
Ach so: Auf der CD ist noch eine ganz interessante Einspielung des Fragments von Mozarts unvollendet gebliebenen Streichtrio in G-Dur (KV 562e). Vielleicht für Sammler nicht uninteressant…
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