Beeindruckender neuer Beitrag zur Reihe mit Lutosławskis Gesamtwerk bei “CD Accord”
Witold Lutosławski gehörte bis zu seinem Tod im Jahr 1994 zu den bekanntesten und am meisten aufgeführten Komponisten der Moderne. Warum Lutosławski beim Publikum so viel Erfolg hatte — und zwar bei wirklich breiten Publikumsschichten, nicht nur bei einer Handvoll von Spezialisten — ist eigentlich nicht so ganz erklärbar, denn Lutosławskis Musik ist nichts für ungeübte Hörer. Er, der sich weder der Gruppe der Zwölftöner noch den „Neu-Tonalen“ anschließen mochte, pflegte sein ureigenes Credo: Die Zwölftönigkeit disqualifizierte er als „Vorrang des Systems über die Hörkontrolle“ während er den Neoromantikern entgegenhielt, sie würden „tonale Relikte mit falschen Tönen“ komponieren.
Die musikalische Entwicklung Lutosławskis verlief also unter Ausprägung eines sehr originellen und authentischen Personalstils, der sich zudem in ständiger Wandlung befand. Hier war jemand, der nicht ständig ein und dasselbe komponierte, sondern der willens war, seinen Stil bis ins hohe Alter immer und immer wieder neu zu hinterfragen und umzugestalten. Das hatte offenbar eine immense Anziehungskraft auf die Zuhörer, zumal man einen Personalstil dieser Güteklasse nur alle Jubeljahre einmal zu Gehör bekommt. Und so muss auch ich gestehen, dass ich den polnischen Altmeister der Moderne für einen der besten Komponisten des 20. Jahrhunderts halte.
Menschen, die ähnlich denken, werden sich gefreut haben, als anno 2007 das polnische Label „CD Accord“ ankündigte, das Gesamtwerk Lutosławskis in einer repräsentativen CD-Edition zu veröffentlichen. Bislang erschien jedoch erstens nur sehr wenig (nur zwei CDs waren in den vergangenen 3 1/2 Jahren in dieser Reihe erschienen) und zweitens nichts, was man nicht auch anderswo schon auf CD hätte kaufen können.
Nun aber zeigt das Label mit der dritten Veröffentlichung der „Opera Omnia“ von Witold Lutosławski beeindruckenden Mut zur Tat, denn auf der nun vorliegenden Novität in der Reihe sind gleich zwei Werke vertreten, die zu den bei Weitem unbeliebtesten des Komponisten gehören. Das zeugt von einiger Risikobereitschaft, denn irgendwer muss die CDs ja auch kaufen, um das Gesamtprojekt finanzieren zu können. Andererseits bleibt einem Label, das ein solches Mammutvorhaben startet, ja auch kaum etwas anderes übrig, als auch die unbekannten oder unbeliebten Werke des im Mittelpunkt stehenden Komponisten zu veröffentlichen.
Sogar der Booklet-Kommentator gibt zu: „The Double Concerto (…) I find problematic (…)“. Und der sollte uns ja eigentlich Lust auf die Musik machen, die wir da in Form einer großartig und äußerst edel ausgestatteten CD-Box in Händen halten. Sie kommt als Schuber mit der CD im aufwendig mit UV-Lack bedruckten Digi-Pak und einem 76-seitigen (!) leimgebundenen Booklet, das in Sachen Layout und Informationsfülle keine Wünsche offen lässt (außer vielleicht, dass der Text nur in Polnisch und Englisch verfügbar ist und nicht in Deutsch).
Die CD stellt zum einen die „Präludien und Fuge für Solostreicher“ und zum anderen das „Doppelkonzert für Oboe, Harfe und Kammerorchester“ in den Mittelpunkt des Geschehens; beide Werke gehören, wie erwähnt, zu den eher umstrittenen Kompositionen des Meisters aus Polen.
Ähnlich wie einige andere Komponisten der Moderne (am bekanntesten dürfte da das Beispiel Schostakowitsch sein), widmete sich auch Lutosławski zu Beginn der 1970er-Jahre dem Thema „Präludium und Fuge“. Er vermied es jedoch konsequent in neoklassisches Terrain abzudriften, wie es die allermeisten seiner „Mitbewerber“ taten, sondern konzipierte ein radikal modernes und nach Auffassung vieler Kritiker zu sehr zur Theorie und zum Akademismus neigendes Stück, das mit einer Spielzeit von gut 35 Minuten zudem seine längste veröffentlichte Komposition bleiben sollte.
Das Stück fordert den Zuhörer in hohem Maße, da die 13 Streicher dieses Stücks, wie der Titel schon sagt, als Solo-Streicher behandelt werden. Es fehlt also konsequent der im Prinzip seit Anbeginn der „klassischen“ Musik dem Hörer angewöhnte und vertraute Ensembleklang. Stattdessen entstehen funkelnde, flirrende, gelegentlich auch unbarmherzig und kompromisslos wirkende Klänge, die man vielleicht gut mit folgendem Bild umschreiben kann: Es ist, als hörte man ein Gemälde während der Entstehung, bei dem 13 „musikalische Pinsel“ gleichzeitig in derselben Farbe malen und somit ein Bild entsteht, bei dem sich die Linien einmal zu dichten Farbclustern treffen, mal parallel nebeneinander her ziehen und mal ein wildes „Durcheinander“ verursachen. Am Schluss steht eine aleatorische Fuge, also eine Fuge, die durch den Zufall bestimmt wird, da jeder der 13 Streicher eine eigene Stimme bekommt, die er mehr oder weniger nach Belieben zu einem Zeitpunkt seiner Wahl beginnen und enden lassen kann. Alles in allem ist das ein zwar schwieriges Stück, das die Konzentration des Hörers fordert, aber ich finde es auch in höchstem Maße faszinierend.
Bei dem Doppelkonzert für Oboe und Harfe, das 1980 für Heinz Holliger, den bekannten Oboisten und Komponisten, geschrieben wurde, habe auch ich so meine Probleme. Auf mich wirkt es — ganz ehrlich gesagt — in starkem Maße wie ein typisches Auftragswerk, das der Komponist eben „pflichtgemäß“ zu einem klingenden Endergebnis führte, das jedoch keines seiner besten oder inspiriertesten Werke darstellt. Vielleicht fehlt mir aber auch einfach nur der Zugang. Am besten, man hört es sich an und entscheidet für sich selbst.
Die auf dieser CD zu hörenden Orchester, Dirigenten und Solisten spielen jedenfalls sensationell gut! Vor allem das NFM Kammerorchester aus Breslau unter dem Dirigat von Ernst Kovacic bewältigt seine 13 Soloparts in den Präludien und der Fuge glänzend und hat zu keiner Zeit Probleme mit den extremen dynamischen Abstufungen dieser Musik. Auch die schwierig auszuführenden Glissandi, die in den Präludien immer wieder auftauchen, werden meisterhaft interpretiert. Auch das NFM Philharmonieorchester gibt dem Doppelkonzert seine volle Aufmerksamkeit. Als ob es das Lutosławski’sche Meisterwerk schlechthin wäre, spielen die Musiker, als ginge es hier darum die definitive Einspielung für die Nachwelt festzuhalten. Und ich glaube, eben dieser Anspruch ist in beiden Fällen gelungen: Dies sind Referenzeinspielungen für die Ewigkeit, die so schnell sicher nicht „getoppt“ werden können. Es ist frappierend mitanzuhören, wie fantastisch die polnischen Radiosinfonieorchester zurzeit „drauf“ sind. Das hatten wir ja vor einigen Tagen bereits bei einer anderen fabelhaften CD des polnischen Labels DUX feststellen können (http://www.incoda.de/listener/reviews/224/piotr-moss-meditation-und-psalm-voyage-cinq-tableaux-de-caspar-david-friedrich).
Der Klang der CD ist ebenfalls hervorragend: Glänzend die räumliche Staffelung, sehr gut die Auflösung bis zum kleinsten Bogenstrich, kraftvoll die Bassreserven der Perkussionsinstrumente im Doppelkonzert. Allenfalls ist eine spürbare Überbetonung der Mitten auszumachen, und für meinen Geschmack hätte die Aufnahme insgesamt einen „Tick“ mehr Hall vertragen — was ich hier selten einfordere, da ich „trockene“ Aufnahmen eigentlich sehr schätze. Die Solisten im Doppelkonzert wirken zudem etwas zu sehr in den Vordergrund gemischt. Aber auch das ist kein wirklich wesentlicher Störfaktor.
Fazit: Eine rundum glorreiche CD und ohne Zweifel die derzeitige Referenz für dieses Repertoire! Aber es handelt sich hier um Musik fernab von jeglicher Eingängigkeit. Sie fordert vom Hörer die volle Aufmerksamkeit, wird ihn (zumindest im Fall der „Präludien…“) dafür aber auch mit einem grandiosen Musikgenuss belohnen.
NFM Kammerorchester, NFM Philharmonie-Orchester, div. Dir. u. Sol.
(2011) CD Accord / Universal Music Polska
Best.-Nr.: ACD 166-2 / EAN: 5902176501662
Weitere Rezensionen finden Sie bei:
Schreibe den ersten Kommentar