Alle Fotos mit freundlicher Genehmigung von Carlo Piccardi (Progretto Martha Argerich)
“Man sollte nicht mir, sondern all diesen grossartigen Leuten hier danken; ich komme einfach nur dazu”, meint Martha Argerich, und rückt ein paar Strähnen ihrer berühmten grauen Mähne zurecht, während sie im Gedränge der Festivalgäste auf den Künstler des Abends wartet.
Eher dafür bekannt, ihr Programm in allerletzter Minute umzustellen, scheint dieser Ausdruck von Bescheidenheit unerwartet. Und dann nickt sie in Richtung eines schlanken, etwas angespannt wirkenden Herrn, der jede ihrer Bewegungen aus respektvoller Distanz aufs Genaueste beobachtet.
Foto: Martha Argerich – CopertinaDer Blickkontakt zwischen den beiden bedarf keiner Worte, denn der Herr ist niemand anders als Carlo Piccardi, consigliere und einer der Pfeiler des Festivals; immer bereit, auf Argerichs Wünsche einzugehen und anbahnende Katastrophen abzuwenden, steht er der künstlerischen Leiterin des Luganer Festivals zur Seite.
Vielleicht möchte sie einige der Künstler zum Abendessen treffen, bevor sie sich auf den Weg zur Luganer Radiostation macht, um dort wie fast jede Nacht eine Probespätschicht einzulegen. Vielleicht möchte sie aber auch den Menschen aus dem Weg gehen, die von ihrer Präsenz fasziniert, auf eine Gelegenheit warten, sich mit ihr fotografieren zu lassen. Natürlich könnte es auch sein, dass sie den Wünschen ihrer Verehrer an diesem Abend gerecht werden möchte.
Es ist ein Tanz, der von grosser Nähe und gegenseitigem Verständnis spricht, und der sich beim Progetto Martha Argerich-Festival in diesen Juni-Wochen ständig wiederholt.
Verliebt in die Idee, Kammermusik und Martha Argerich in seine Region und somit sein Leben zu bringen, hatte der frühere Radio della Svizzera Italiana – Direktor und Musikologist das Festival mit ins Leben gerufen. Initiator war der damailge EMI-Aufnahmeleiter und Fernsehproduzent Jurg Grand (Spitzname ’Abdul’), der sich die Frage gestellt hatte, warum seine grossartige Freundin, die Pianistin Martha Argerich, ein (heute nicht mehr bestehendes) Festival in Buenos Aires und eines im japanischen Beppu leitete, aber keines in Europa.
Für die in Argentinien geborene Argerich, die heute in Brüssel lebt und Schweizer Staatsbürgerin ist, schien der Projektvorschlag der logische nächste Schritt, nicht zuletzt auch ob ihrer Faszination mit allem Italienischen. Dazu kam noch die Tatsache, dass Piccardis enge Verbindungen zu Rete Due und der Banca Svizzeria Italiano – damals wie heute ein wichtiger Sponsor des Festivals – ideale Voraussetzungen für ein Kammermusikfestival in der italienischen Schweiz schufen. Piccardis Ausdauer und Argerichs überzeugender Persönlichkeit und überragenden muskialischen Grösse ist es zu verdanken, dass Jurg Grands Frage derart erfolgreich beantwortet wurde, und Lugano nun ein Festival von Weltklasse beherbergt.“Martha ist wie ein Fluss”, sagt Piccardi, während er gleichzeitig vier wichtige Telefonate nacheinander führt. “Als wir sie kontaktierten, um die Möglichkeit eines Luganer Festivals zu besprechen, sagte sie: ‘Hmm, ja, es ist vielleicht möglich.’ Und dann war das erste Festival 2002 eine Katastrophe”, erinnert sich Piccardi.
“Als Direktor der Kulturabteilung eines Radiosenders hatte ich keinerlei Erfahrung mit Live-Konzerten. Am Ende war ich völlig erschöpft, und Martha and Jurg übernahmen die Zügel. Morgens fanden Konzerte in einer Kirche statt, abends im Sender, und die 32 Künstler mussten abends auch noch proben. Heute legen wir zwischen Proben und Aufnahmen einen freien Tag ein; dafür haben wir inzwischen 82 Musiker, und die Konzerte verteilen sich über drei Wochen; viele Konzerte werden live aufgenommen und gesendet, oder auch live gestreamed.”
Im zweiten Jahr war Piccardi besser vorbereitet: “Ich war nun mit den Problemen vertraut, die eine Produktion dieser Grössenordnung mit sich bringt, aber dann kam es zu einer Katastrophe: Jurg, der Gründer des Festivals, starb plötzlich. Martha war zu der Zeit in Buenos Aires, und wir mussten schnell entscheiden, ob wir weitermachen. Wir entschieden uns, zumindest die bereits geplante Saison durchzuführen”, sagt Piccardi. Was erschwerend dazu kam, war , dass … “vom Klavier abgesehen, Martha nicht sehr systhematisch denkt. Sie ist oft ambivalent, und bleibt vage, wenn man sie etwas fragt. Es ist immer ein ‘vielleicht’.”
Die Offenheit eines ‘vielleicht’ kommt Argerich bei ihrer Talentsuche möglicherweise zugute. Empfehlungen von Freunden, auf deren Urteil sie vertraut, sowie ihre Teilnahme als Jurymitglied internationaler Wettbewerbe bringen sie ständig in Kontakt mit vielversprechenden neuen Künstlern.
“Sie vertraut auch meinem Urteil, und einige der jungen Künstler, die beim Festival aufgetreten sind, waren von mir vorgeschlagen worden; aber sie ist auch sehr spontan und entdeckt manchmal Künstler auf YouTube”, erläutert Piccardi, der sich hauptsächlich um das Programm kümmert.
Meist ist es schon sehr spät, wenn Piccardi die legendäre Pianistin nach ihrer nächtlichen Programmvorbereitung nach Hause bringt; es wird oft genug 3 Uhr morgens. “Martha ist eine Nachteule”, sagt Piccardi, “Sie übt manchmal gern gleich nach einem Konzert und bereitet das nächste vor.” Argerich legt nur kurze Verschnaufpausen ein, zum Beispiel um ab und zu eine Zigarette mit einem ihrer Musiker Kollegen zu rauchen und zu plaudern.
Bekannt dafür, dass sie sich nie ausreichend vorbereitet fühlt, hat Argerich vor Auftritten häufig Lampenfieber. Dieses Jahr war es Tchaikovskys Concerto No.1, das sie nervös machte, und das obwohl ihre Interpretation aus dem Jahr 1994 unter dem legendären Claudio Abbado als Massstab für dieses Werk gilt. Trotzdem: Vor ihrem Auftritt im Luganer Palazzo Dei Congressi, wo sie mit dem Orchestra Della Svizzera Italiana unter Alexander Vedernikov auftrat, meldete sich wieder einmal die Bühnenangst.
Der Gemütszustand der Pianistin mag die Teilnehmer und Besucher des Festivals bewegen, doch Piccardi nimmt an diesen Spekulationen nicht teil. Er vertraut lieber bewährten Rezepturen, wie dem alten Künstlerhaus, das die Künstlerstiftung Pro Helvetia Martha Argerich für die Dauer des Festivals zur Verfügung gestellt hat, und in dem sie sich wohlfühlt. Nur wenige Schritte von Piccardis eigenem Haus entfernt, vermittelt das Haus die zeitlose Atmosphäre eines Ortes, der sich seit vielen Jahren von der Energie seiner Künstlergäste nährt
“Martha ist kein Mensch, der einen Monat lang in einem Hotel wohnen kann; sie braucht ein familiäres Ambiente; es sind all die kleinen Dinge, die einen Unterschied machen”, erklärt Piccardi. “Wenn wir mitten in der Nacht zur Casa Pantrova zurückfahren, ist da ein Gefühl von Zugehörigkeit, von zu Hause ankommen.
Mit Programmen, die die Interaktion des Klaviers in allen möglichen Formen und mit verschiedenen Instrumenten zelebrieren – seien es Piano-Duos, Trios, Quartette oder Quintette, oder mitunter auch mehrere Pianos gleichzeitig – hat sich das bereits seit 13 Jahren bestehende Festival einen internationalen Namen gemacht. Fester Bestandteil des vielfältigen Konzertangebots sind Martha Argerichs Auftritte mit Freunden, Kollegen und jungen Musikern.
“Sie macht soviel Mut”, sagt die venezuelanische Pianistin Gabriela Montero, deren internationale Karriere nicht zuletzt durch Argerichs Ermunterung, bei Auftritten ihr besonderes Improvisationstalent auszuleben, positiv beeinflusst wurde.
Foto: Andrej Grilc – Gabriela Montero Ilona OltuskiDas Festival, das an verschiedenen Veranstaltungsorten in und um Lugano stattfindet, rühmt sich seines unbürokratischen Procederes: hier gibt es keine Formalien in Form von Bewerbungen, und der sonst übliche Wettbewerb um Zugang zum Festival fällt gänzlich weg. Martha Argerich ist offen für neue Talente; ihr musikalischer ‘Inkubator’ ist ein Versuchslabor, das jungen Musikern erlaubt, mit international anerkannten Künstlern aufzutreten. Mehr noch: das hohe Mass an Respekt für die Künstler des Festivals bewirkt, dass Kapazitäten wie der Geiger, Pädagoge und Schauspieler Ivry Gitlis, ebenfalls ein langjähriger Freund Argerichs, seine Beteiligung am Festival trotz fortgeschrittenen Alters zwar nicht mehr als Performer, aber durch seine Lehrtätigkeit weiterführt.
“Martha liebt es, von anderen Künstlern umgeben zu sein, und die eher belastenden Aspekte der Auftritte, als auch die Freude am gemeinsam Erlebten, mit ihnen zu teilen“, sagt Picardi. Oft sieht man sie mit Künstlern lachen, oder sich über ihre Schwierigkeiten mit einer Partitur beschweren. Von jungen Musikern umgeben, scheint die Energie der 73-jährigen Pianistin kein Alter zu kennen.
In letzter Zeit beunruhigt sie jedoch die Entscheidung einiger Kollegen, nicht mehr öffentlich aufzutreten.” Im Gegensatz zu Alfred Brendel und Maria Joan Pires, die ihre Auftrittskarriere an den Nagel gehängt haben und es lieben, Masterklassen zu geben, ist Martha nicht am Unterrichten interessiert.
“Martha muss geradezu auftreten; sie kann ohne Musik nicht leben”, sagt Piccardi, und fügt hinzu: ”Kammermusik ist ihr Lebenselixier.” Wer Argerich spielen sieht und hört, wie zum Beispiel im eleganten Grand Hotel Villa Castagnola, oder beobachtet, wie sie im Kreis junger Künstler auf ihren Auftritt wartet, weiss wovon Piccardi spricht. Und in all den Jahren ihrer langen Karriere hat sie nichts von ihrem meisterlichen Spiel verloren. Es ist immer noch eine wunderbare Erfahrung dabei zu sein, wenn sie ihr Piano mit Leib und Seele zum Erklingen bringt.
Künstler aller Herren Länder kommen jedes Jahr in Lugano zusammen, aber neben gemeinsamer musikalischer Aktivitaten ist es vor allem der persönliche Kontakt zu Argerich, der für viele von Bedeutung ist. Der gemeinsame Nenner der Freundschaften, die über die langen Jahre Argerichs internationaler Konzertkarriere hinweg entstanden, ist oftmals Argerichs Fähigkeit, ihren Platz im Rampenlicht mit anderen Künstlern zu teilen und diese zu unterstützen. So hat das Festival auch seine familiären Aspekte, und kann vor allem für Musiker zu Beginn ihrer Laufbahn Wunder wirken:
“Am Festival teilzunehmen kann dich wirklich vorwärts bringen”, sagt Nora Romanoff, eine junge Musikerin, die seit ihrem 16. Lebensjahr am Festival teilnimmt. Die Tochter der berühmten Geigerin Dora Schwarzberg hatte ihren sprichwörtlichen Sprung ins kalte Wasser, als das Festival in seinen frühen Tagen eine zusätzliche Bratschistin suchte. “Kann sie es schaffen?”, hatte Argerich Dora Schwarzberg gefragt, mit dem Ergebnis, dass Nora ohne jegliche Vorerfahrung in Sachen Kammermusik zur jüngsten Musikerin des Festivals wurde.
Foto: Misha Maisky und Martha ArgerichMartha Argerichs musikalischer Partner und langjähriger Freund, Cellist Misha Maisky, bringt seine beiden Kinder – Pianistin Lily und Geiger-Sohn Sasha – regelmässig zum Festival, um sie vom ‘learning by doing’-Prinzip des Festivals profitieren zu lassen. Und die Pianistin Lilya Zilberstein, ebenfalls eine langjährige Weggefährtin Argerichs, tritt nun mit ihrer ehemaligen Schülerin Akane Sakai sowie ihren beiden Pianistensöhnen Anton und Daniel Gerzenberg auf.
Die Liste der alljährlichen Lugano-Pilger umfasst auch Künstler wie Gidon Kremer, Stephen Kovacevich und Charles Dutoit, die Teil von Argerichs Leben sind; sie alle würdigen die grosse Martha mit ihrer Anwesenheit, und Martha Argerich teilt die Bühne nur zu gerne mit ihnen.
(Foto: Annie Dutoit mit Carlo Piccardi)Annie Dutoit, Argerichs mittlere Tochter aus ihrer Ehe mit dem Dirigenten Charles Dutoit, gab beim diesjährigen Festival mit ihrer Adaption des Textes von C.F. Ramus zu Igor Stravinskys L’histoire du soldat ihr Schauspieldebut. Auch Bratschistin Lyda Chen, Argerichs älteste Tochter aus ihrer ersten Ehe mit Dirigent Robert Chen, nimmt regelmässig am Festival teil, oft als Partnerin bei den Auftritten ihrer Mutter.
(Foto: Ausschnitt des Films)
Argerichs jüngste Tochter Stephanie stellte beim Festival 2013 den von ihr produzierten Film Bloody Daughter vor; der Dokumentarfilm gewährt intime Einblicke in das Leben ihrer eher zurückgezogen lebenden Mutter. Der Titel des Films spielt auf die Spannungen im Familienleben des Piano-Superstars an, aber – wie Stephanies Vater, der Pianist Stephen Kovacevich im Film erklaert – ist Stephanie’s Spitzname “bloody daughter” eher liebevoll gedacht. Was der Film leistet ist, dass er die rein menschliche Seite der grossen Pianistin vorzustellen weiss.
“Martha mochte den Film, und obwohl sie ihre Privatsphäre sehr schützt und es ein bisschen unheimlich sein muss, derart persönlich porträtiert zu werden, hätte der Film doch von niemand anderem als ihrer Tochter gemacht werden können”, kommentiert Piccardi.
Keiner der Gäste verlässt das Festival ohne eine Verabschiedung von Argerich. Egal in welcher Sprache – die Pianistin spricht fliessend Italienisch, Englisch, Spanisch, Französisch und auch ziemlich gut Deutsch – der Ton ist immer sehr persönlich und engagiert.
Seit 2002 bringt EMI unter dem Titel “Martha Argerich & Friends: Live from Lugano” eine Reihe von Aufnahmen heraus, die über Warner Classics vertrieben werden. Unter dem Titel “Martha Argerich: Lugano Concertos” veröffentlichte die Deutsche Grammophon ein 4-CD-Album, das die erste Dekade des Festivals mit dem Orchestra della Svizzeria Italiana vorstellt. Das Album wurde letztes Jahr mit dem Echo Klassik-Preis ausgezeichnet.
Ohne Rücksicht auf ihr Prestige wurden alle Künstler von Anfang an gleich und pro gespieltem Konzert bezahlt. “Wenn sie mehr verdienen wollen, müssen sie mehr Konzerte spielen. Egal ob sie einen grossen Namen haben oder nicht – jeder Musiker tut hier das Seine”, sagt Piccardi.
“Zu Anfang des Festivals ging es wirklich hauptsächlich um die künstlerische Grossfamilie, aber mit der Entwicklung des Festivals wuchsen auch die Egos, Fragen wie ‘wer spielt mit wem’ kamen auf den Plan, und Wettbewerbsdenken machte sich breit“, meint Piccardi. “Meine Rolle ist es, alles im Sinne der ursprünglichen Idee von Aufgeschlossenheit zu organisieren, Musik im Zentrum der Aufmerksamkeit zu belassen und ein anspruchsvolles Programm auf die Beine zu stellen.”
Das sollte Martha Argerich und Carlo Piccardi auch in Zukunft gelingen. Das 14. Progetto Martha Argerich-Festival findet voraussichtlich wieder im Juni 2015 in Lugano statt.
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