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Interview mit dem Dirigenten Andris Poga

Für das Label Ondine hat der lettische Dirigent Andris Poga vor einigen Wochen den letzten Teil eines Zyklus veröffentlicht, der sich mit dem sinfonischen Schaffen des hierzulande wenig bekannten „kanadischen Komponisten lettischer Herkunft“ (so die Wikipedia) Tālivaldis Ķeniņš (1919–2008) beschäftigt. Anlässlich des Abschlusses dieser kleinen Reihe sprach der Musikjournalist Dr. Burkhard Schäfer mit dem Dirigenten über seine Beweggründe und über die Besonderheiten in der Musik Ķeniņš


„Ich bin froh, der Welt die ersten Studio-Aufnahmen von Ķeniņš‘ Sinfonien präsentieren zu können“ (Andris Poga)

Schäfer: Herr Poga, was zeichnet Tālivaldis Ķeniņš‘ Sinfonien aus?

Poga: Ich denke, dass die Tatsache, dass er in Lettland geboren wurde, später in Paris studierte und den größten Teil seines Lebens in Kanada verbrachte, eine einzigartige Melange darstellt, die man in seiner Musik auch deutlich hören kann. Er begann erst relativ spät mit dem Komponieren von Sinfonien, und dennoch kann man eine klare stilistische Entwicklung von der Ersten bis zur Achten, seiner letzten, hören. Sie unterscheidet sich deutlich von dem, was wir normalerweise mit lettischer Musik der Nachkriegszeit assoziieren, aber auch von dem, was viele lettische Komponisten in den 1980er und 1990er Jahren als ihren Stil präsentierten, in welchem Folklore und Diatonik eine wichtige Rolle spielten. Das ist bei Ķeniņš nicht der Fall.

Schäfer: Wo würden Sie Ķeniņš im Kontext des 20. Jahrhunderts musikhistorisch verorten?

Poga: Offiziell wird er als „Modernist der lettischen Musik“ bezeichnet. Ich denke aber, es letztlich viele Einflüsse und eine Mischung von Stilen gibt, die seine Musiksprache charakterisieren.  Man kann ein breites Spektrum hören, angefangen von der Spätromantik über französische Einflüsse bis hin zur Musik der indigenen Bevölkerung Nordamerikas, zum Beispiel im zweiten Satz seiner 3. Sinfonie. Ich kann nur davor warnen, Ķeniņš in eine bestimmte Schublade zu stecken (lacht).

Schäfer: Wie kam es überhaupt zu dem Projekt, Ķeniņš‘ Sinfonien – nebst weiteren Orchesterwerken – auf CD einzuspielen?

Poga: Eigentlich war dies einer der ganz wenigen positiven Momente der Pandemiezeit (lacht). Als die Konzerttätigkeit im Frühjahr 2020 eingestellt wurde, haben wir dieses Aufnahme-Projekt als eine Hauptaktivität des LNSO (Latvian National Symphony Orchestra, Anm. d. Red.) gestartet, bei der die Musiker wieder zusammenkommen und miteinander arbeiten konnten. Ich bin mir nicht sicher, ob das ohne dieses Projekt jemals möglich gewesen wäre. Ich kannte einige von Ķeniņš‘ Werken schon vorher, aber von Sinfonie zu Sinfonie hatte ich das Gefühl, dass ich besser verstand, was er ausdrücken wollte und wie man es am besten mit einem Orchester umsetzt.

Schäfer: Gibt es eine Sinfonie von Ķeniņš, die Ihnen besonders nahe steht?

Poga: Nun, das ist einfach (lacht), ich fühle mich besonders mit seiner letzten Sinfonie, der Nummer 8, verbunden. Erstens, weil sie die raffinierteste symphonische Komposition ist, das größte Meisterwerk, das er meiner Meinung nach je komponiert hat, und zweitens, weil es faszinierend zu erleben ist, wie er, der ja selbst ein guter Organist war, die Orgel in die Texturen des Orchesters einbezieht. Die Achte war meine erste Ķeniņš-Sinfonie, die ich je dirigiert habe, und ich wurde von der lettischen Organistin Iveta Apkalna in sie eingeführt. Wir haben das Werk dann 2019 als Hommage zu Ķeniņš’ 100. Geburtstag gemeinsam aufgeführt – ein Erlebnis, das ich nie vergessen werde.

Schäfer: Lassen Sie uns über die letzte CD der Reihe mit den Sinfonien 2, 3 und 7 sprechen. Was zeichnet diese Werke aus?

Poga: Diese drei Sinfonien sind sehr unterschiedlich – und sie repräsentieren den zeitlichen Abstand, der zwischen ihnen liegt, sehr gut. Die asymmetrisch gebaute „Sinfonia concertante“ von 1967 basiert, wie schon erwähnt, auf einem Wiegenlied der indigenen Bevölkerung Nordamerikas, während die chromatisch und kontrapunktisch konzipierte Sinfonie Nr. 3 aus dem Jahr 1970 auf typische Gattungselemente wie die Sonatenform verzichtet. Die Gesangsstimme seiner 7. Sinfonie schrieb Ķeniņš 1980 für die damals berühmte lettische Mezzosopranistin Melita Mičule. Da er ein Exilkomponist und in seiner neuen Heimat eher als Organist bekannt war, wurden die meisten seiner Sinfonien von der lettischen Musikgesellschaft in Kanada in Auftrag gegeben und oft nur von Projektorchestern uraufgeführt. Ich bin deshalb sehr froh, der Welt nun endlich die ersten Studioaufnahmen dieser Werke präsentieren zu können.

Schäfer: Ķeniņš verwendet oft alte Formen wie Fuge und Passacaglia. Seine 6. Sinfonie heißt „Sinfonia ad Fugam“ und seine 7. „Symphony in the form of a Passacaglia“. Was will er damit sagen? 

Poga: Eine seiner großen musikalischen Autoritäten war Johann Sebastian Bach und so erstaunt es nicht, dass die vielen polyphonen Strukturen in seinen Sinfonien auf dieses Vorbild rekurrieren. Ich denke, dass die Form der Passacaglia in erster Linie einen Code seiner musikalischen Überzeugungen darstellt, sich aber auch auf die Form des Mezzosopran-Solos bezieht. Ķeniņš selbst sagte, dass die „Symphony in form of a Passacaglia“ seine persönlichste Sinfonie sei, zumal er in ihr auch das Gedicht „Lied des Schicksals“ seines Vaters Atis Ķeniņš vertonte.

Schäfer: Letzte Frage: Wie haben die Zeit der Aufnahme-Sessions erlebt? Welche Herausforderungen mussten Sie und das LNSO dabei bewältigen?

Poga: Die Aufführung und vor allem die Aufnahme seiner Sinfonien stellt das Orchester und seinen Dirigenten vor viele Herausforderungen. Ķeniņš Musik ist voller komplizierter rhythmischer und metrischer Strukturen. Viele kleine Details müssen dabei penibel beachtet werden. Auch die harmonische Sprache und die vielschichtigen Akkorde sind ziemlich anspruchsvoll. Aber am wichtigsten ist es, die richtigen Charaktere zu finden, wofür man die vielen Stile, die bei Ķeniņš zum Einsatz kommen, oft sehr plötzlich wechseln muss. Daher bin ich dem Orchester und dem gesamten Produktionsteam sehr dankbar für diese wunderschöne und zugleich anspruchsvolle Reise, die alles in allem etwa anderthalb Jahre gedauert hat und mir viele Perspektiven eröffnet hat.

Schäfer: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Poga.


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