Manchen mag es erstaunen, dass die beeindruckendste geistliche Musik oft gerade von jenen Komponisten stammte, die nicht unbedingt für einen frommen Lebenswandel bekannt oder gar der inneren Hinwendung zum Göttlichen zugeneigt waren. Der Lebemann Mozart schrieb zum Ende seines kurzen Lebens das herzzerreißende Requiem. Der musikalische Aufklärer Beethoven haderte in seiner monumentalen Missa Solemnis offen mit Gott und dem Schicksal.
Igor Strawinsky kannte geistliche Musik vorwiegend aus der Zeit seiner Kindheit im ländlichen Russland. Später machte er als lebenslustiger Pariser Bohemien von sich reden, der sich gern zusammen mit illustren Persönlichkeiten wie Cocteau und Picasso, genau so gern aber auch mit Wein, Weib und Gesang umgab. Legendär sind die Anekdoten, die sich um ausgedehnte Sauftouren von Picasso und Strawinsky ranken.
Außerdem darf nicht vergessen werden, dass Strawinsky zentrale Elemente seines Werkkatalogs (z. B. „Le Sacre du Printemps“, „Der Feuervogel“, „Les Noces“) auf heidnischer, russischer Mythologie gründete. Ausgerechnet dieser Komponist schrieb aber dann ab den 1930er Jahren zunehmend Musik mit geistlichem Bezug, die aber nicht immer auch für geistliche Anlässe gedacht war. Die zentralen Werke, die der Komponist in diesem Fach schuf, sind nun auf einer weiteren CD der großartigen „Robert Craft-Collection“ bei Naxos erschienen.
In seiner bekannten Psalmensymphonie vertonte Strawinsky Bibelpsalmen im Stil der russisch-orthodoxen Kirchenmusik, wobei er jedoch die Silbenintonation der Texte quasi außer Kraft setzte: Eine Symbiose von uralten und radikal modernen Stilelementen war geboren – eine Eigenschaft, die Strawinsky in seiner neoklassischen Periode ebenfalls eifrig pflegte. Im Vorfeld seiner neoklassischen Oper „The Rake’s Progress“ schrieb der mittlerweile im Exil lebende Russe seine luzid schlicht komponierte und gerade deswegen unmittelbar ergreifende Messe. Diese basierte von der Grundidee auf mittelalterlichen Kirchenmusik-Tonarten, was einen aus heutiger Sicht nicht selten an den Stil des Esten Arvo Pärt in den 1970er Jahren erinnert.
In der Kantate für 5 Instrumente, Frauenchor, Mezzosopran und Tenor ist ebenfalls noch viel von „The Rake’s Progress“ zu erahnen. Die Kantate war das unmittelbare Nachfolgewerk von Strawinskys viel gelobter Oper. Die Miniaturen „Drei russische geistliche Chöre“ sowie die kurze Kantate „Babel“ runden das ausgesuchte Programm dieser CD ab.
Was Naxos hier wieder zugänglich macht, sind (wie bereits in den vorangegangenen Episoden der „Robert Craft-Collection“) neu kompilierte Zusammenstellungen von vormals auf den Labels „Music Masters“ und „Koch“ veröffentlichtem Material. Robert Craft, Dirigent der vorliegenden Aufnahmen, war in den letzten zwei Jahrzehnten von Strawinskys bewegtem Leben quasi dessen „Schatten“. Er gilt bis heute als engster Vertrauter des Komponisten, als derjenige, der in unzähligen Stunden des Gesprächs und des Musizierens mit dem Meister einen untrüglichen Blick für das so charakteristische Strawinsky-Idiom entwickelt hat.
Sämtliche bisher erschienenen CDs der vorliegenden Reihe müssen objektiv und vorbehaltlos als Tondokumente von musikhistorischer Bedeutung betrachtet werden. Nicht weniger gilt dies auch für die hier besprochene CD. Der Klang ist, wie bei den vorherigen Aufnahmen der Collection auch, absolut vorzüglich. Das gleiche Prädikat kann für die musikalischen Leistungen des Londoner Philharmonia Orchestra, des Orchestra of St. Luke’s sowie der beteiligten Solisten und Vokalensembles vergeben werden.
Wie unterschiedlich insbesondere die Psalmensymphonie interpretiert werden kann, zeigt sich, wenn man z. B. die Aufnahme des London Symphony Orchestra unter Michael Tilson Thomas (Sony Classics) mit der hier vorliegenden Einspielung des Philharmonia Orchestra unter Robert Craft vergleicht: Michael Tilson Thomas entwickelt aus der Symphonie eine barbarische Tour de force, die auch als Soundtrack für den Horrorstreifen „Das Omen“ eine gute Figur abgegeben hätte. Robert Craft hingegen nimmt radikal Tempo und Dynamik (!) aus dem Stück, was einen unerwartet statischen Eindruck ergibt. Unterschiedlichere Lesarten kann man sich kaum vorstellen. Gerade diese spannenden Entdeckungen sind es, die zumindest mich schon mit großer Ungeduld auf die nächste CD dieser brillanten Naxos-CD-Reihe warten lassen.
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