Der musikalische König
„hänri-si-eitzß“, wie man ihn im Englischunterricht kennengelernt hat, war – so waren sich unsere Schullehrer einig – eher ein Unsympath. Vor allem mit seinen Ehefrauen hatte Heinrich VIII. so seine Probleme. Reichte bei der ersten noch die Scheidung (die allerdings die Lossagung ganz Britanniens von der katholischen Kirche nach sich zog), wurde Heinrich in seinen Methoden zusehends rabiater und ließ Ehefrauen, die ihm – warum auch immer – unliebsam geworden waren, kurzerhand hinrichten. Eine formelle Begründung fand sich ja immer…
Was man über diese „Boulevardgeschichten der Renaissance“ hinaus gern vergisst, ist, dass Heinrich eine für seine Zeit herausragende geisteswissenschaftliche Ausbildung genossen hat. Bereits als Neunjähriger tauschte er sich anhand auf lateinisch verfasster Briefe mit dem Philosophen Erasmus von Rotterdam aus. Im Jugendalter entflammte dann Heinrichs Liebe zur Musik, die er fortan ebenso konsequent studierte, wie er Sprachen lernte, gelehrte Schriften las, sich Mathematik und Astronomie widmete…
Und so zeigen uns wohl beide Seiten Heinrichs vor allem Eines: Das wesentliche Merkmal dieses janusköpfigen Charakters der britischen Geschichte ist, dass er keine halben Sachen gemacht hat. Bei Henry gab es nur „ganz oder gar nicht“. Vielleicht ist damit auch zu erklären, wie aus einem (Berichten zufolge) sportlich-athletisch durchtrainierten Achtzehnjährigen (in diesem Alter wurde Henry VIII. zum König gekrönt) innerhalb weniger Jahrzehnte ein adipöser, chronisch kranker Dauerpatient wurde. Keine halben Sachen eben…
Und so ist es natürlich spannend zu erfahren, welche Musik dieser König einst hörte und welche Musik er sogar höchstselbst komponierte!
Die vorliegende neue CD des deutschen Audiophilenlabels Nummer Eins – Carpe Diem Records – stellt hierzu einen bunten Strauß aus insgesamt 23 musikalischen Kabinettstückchen bereit, die uns bei der vorliegenden Aufnahme von der Capella de la Torre aus Leipzig vorgeführt werden. Neben der Ensemblegründerin und -leiterin Katharina Bäuml mit ihrer Renaissance-Oboe ist der britische Tenor und Alte-Musik-Veteran Charles Daniels integraler Bestandteil des vorliegenden CD-Programms.
Daniels zählt zu den am meisten aufgenommenen Stars der Alte-Musik-Szene und veröffentlichte in der Vergangenheit über 100 CDs, unter anderem bei EMI Classics, Hyperion, Brilliant Classics, chandos, Sigma, Naxos, usw.
Der eigentliche Star der Einspielung ist jedoch die reich besetzte Bläserabteilung der Capella de la Torre. In seltener Klangpracht hört man hier Schalmei, Pommer, Dulzian und Zink – alles Blasinstrumente des 16. Jahrhunderts, die in dieser Zusammensetzung damals wie heute alles andere als alltäglich sind.
Man muss sich das einmal vor Augen führen: Um eine so reichhaltig besetzte Musikgruppierung hören zu können, musste man vor gut vierhundert Jahren König sein! Heute reicht dazu der Kauf dieser CD. Was für einen Luxus wir heute erleben dürfen! Welch ein Glück wir doch eigentlich haben als Alte-Musik-Hörer des 21. Jahrhunderts (vgl. dazu auch diese Rezension über eine CD mit ganz ähnlichem thematischen Hintergrund).
Aufnahmen zur CD “Harry our King” im Oktober 2011 in der Abteikirche von Auhausen. Bildquelle: Carpe Diem Records.
Ein ganz „konkretes Glück“ ist es bei dieser Carpe Diem-Novität aber, dass sie erneut unter der fachkundigen Regie des Ausnahme-Tonmeisters Jonas Niederstadt entstand. Die Aufnahme vermittelt wieder dessen Markenzeichen: Den Einbezug des atemberaubenden Raumklangs alter Gemäuer in den künstlerischen Kontext. Dieses Mal ist die Akustik der Abteikirche des schwäbischen Auhausen der stimmige Rahmen für die wieder einmal blitzsauber bis zum letzten Lippenansatz durchhörbare Aufnahme.
Die ab 1120 erbaute und im 15. Jahrhundert neu ausgestattete Klosterkirche bildet eine für Niederstadts Verhältnisse fast schon zurückhaltend zu nennende Hall-Umgebung, die wunderbar mit den Bläsern der Capella de la Torre harmoniert.
Ob diese Musik nun gerade so, in solcher Besetzung mit solch reicher Bläserpracht auch am englischen Hof geklungen haben könnte!? …eine Frage, die sich höchstens musiktheoretisch aufdrängt. In der Praxis muss man einfach die Segel strecken vor so einer grandiosen Ensembleleistung.
Sollte man wirklich nach Schwachstellen auf dieser CD-Einspielung fahnden wollen, so könnte man sie am Ehesten in der qualitativ manchmal schwankenden Leistung des britischen Tenors Charles Daniels suchen, der nicht bei jedem Einzelnen der 23 Werke auf dieser CD voll auf der Höhe seiner stimmlichen Möglichkeiten zu sein scheint. Dies aber bemängeln zu wollen, wäre fast schon übertrieben kritisch.
“Harry our King”
Capella de la Torre – K. Bäuml; C. Daniels (Tenor)
(2012) Carpe Diem Katalog-Nr.: CD-16292 / EAN: 4032324162924
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