Das Weltersteinspielungskuriosum
Etwas recht Kurioses ist kürzlich passiert: Nachdem mehr als 50 Jahre lang keine Plattenfirma weit und breit auf die Idee gekommen war, Alfredo Casellas bedeutendes Orchesterwerk „Konzert für Orchester“ aus dem Jahr 1937 auf Tonträger einzuspielen, sind nun innerhalb weniger Monate gleich zwei Aufnahmen des Stücks von zwei verschiedenen Labels auf den Markt gekommen – und beide rühmen sich, die „Weltersteinspielung“ zu sein.
Aber der Reihe nach: Im Juni erschien bei uns diese Besprechungzur seinerzeit pressfrischen CD-Neuheit „Alfredo Casella – Orchestral Works Vol. 2“ aus der britischen Edel-Schmiede chandos records. Sie enthielt auch das Konzert für Orchester.
Nun, gerade einmal zweieinhalb Monate später, erscheint beim Naxos-Label in dessen italienischer Reihe eine weitere Aufnahme des Konzerts für Orchester, das Casella einst als Auftragsarbeit für das Amsterdamer Concertgebouw Orchester schrieb. Auf beiden CDs ist das Stück als „world premiere recording“ gekennzeichnet. Was stimmt?
So ganz eindeutig ist das nicht zu beantworten. Naxos ist mit dem Aufnahmedatum 15.-18. Juni 2011 zwar knapp vor dem Aufnahmedatum der chandos-Session (5. August 2011), doch chandos hat seine Einspielung immerhin zwei Monate früher veröffentlicht.
Das ist ein ziemliches Kuriosum, und zumindest mir ist kein vergleichbarer Vorfall bekannt.
Den interessierten Casella-Anhänger mag das aber nicht weiter stören. Stattdessen sollten wir uns freuen, dass wir nun innerhalb so kurzer Zeit zwei Alternativversionen dieses herausragenden Werks italienischer Musikmoderne serviert bekommen. Und die könnten unterschiedlicher kaum sein.
Während ich vor einigen Wochen die chandos-Einspielung des BBC Philharmonic Orchestra unter der Leitung von Gianandrea Noseda wegen ihrer beeindruckenden technischen Perfektion und Homogenität gelobt hatte, kontert das Orchestra Sinfonica di Roma unter der bewährten Leitung Francesco La Vecchias mit einer saft- und kraftstrotzenden, eher rauen Einspielung. Diese kann mit der technischen Perfektion und der faszinierenden Dynamikpalette des BBC Philharmonic leider nicht mithalten (insbesondere, was die Blechbläser angeht).
Dafür betont La Vecchia mit seinem Orchester wesentlich stärker die Modernität des Stücks, und das klingt eben etwas unbequemer.
Beide Einspielungen haben ihre Berechtigung, und hätte ich die Wahl zwischen beiden, ich könnte mich kaum entscheiden; zumal La Vecchia und seine Römer noch zwei wunderbare weitere Orchesterstücke Casellas auf die CD geholt haben, die ebenfalls beide vormals noch nie als Tonaufzeichnung erschienen sind. Und die haben es in sich: Casellas wunderhübsche Suite in C-Dur, op. 13 aus den Jahren 1909-10 gehört mit zum schlicht Schönsten, was ich von dem italienischen Komponisten mit der politisch unbequemen Vergangenheit bislang gehört habe. Casella zitiert hier ungewöhnlich ungeniert sein großes Vorbild Gustav Mahler. Das geht so weit, dass manche Passagen fast abbildgetreu aus Mahlers Erster entlehnt erscheinen. Spannenderweise sind es genau jene Passagen, für die Gustav Mahler selbst im Verdacht steht, sie einst in der Partitur des jung verstorbenen Hans Rott entdeckt und sich einverleibt zu haben. Auch dies: Was für eine kuriose Geschichte!
Zwar ist die Suite noch reichlich jugendlich-herumprobierender Casella und zudem ungeniert spätromantisch in schwelgerischster Art und Weise. Da hängt der Himmel voller Geigen…
Also, ehrlich gesagt: Casella bewegt sich hier am Rande des Musikkitschs, aber andererseits ist es so hinreißend schön, das man aus dem wohligen Seufzen gar nicht mehr herauskommt.
Mit „Pagine di guerra“ op. 25bis folgt das Kontrastprogramm aber auf dem Fuße. Casella zeigte sich hier im weitesten Sinne als „Filmmusikkomponist“. Er vertonte einst Filmausschnitte der Frontberichterstattung des Ersten Weltkriegs. Casella nahm dies zum Anlass ein weiteres Mal seine futuristisch-modernistische Ader walten zu lassen und Musik zu schreiben, die ganz im Geist der Zeit (1915-1918) lag: Von Ausflügen in die „Maschinenmusik“, wie sie etwas später bekanntlich auch Arthur Honegger in Frankreich mit „Pacific 231“ (1923) und Alexander Mossolow in Russland mit seiner „Eisengießerei“ (1928) ausprobierten, ausgehend, spielt Casella hier mit dem gesamten Instrumentarium von Expressionismus und Spätromantik herum. Das macht „Pagine di guerra“ nicht nur zu einem Schlüsselwerk im Œuvre des Italieners, sondern auch zu einem zeitgeschichtlich durchaus bedeutungsvollen Stück.
Abschließend folgt – wie bereits erwähnt – die raue Einspielung des Konzerts für Orchester.
Fazit: Wieder einmal eine richtig tolle Casella-Einspielung. Von dem Werk dieses Komponisten kann man einfach nicht genug bekommen. Es kann gar nicht genug betont werden, wie hervorragend diese Musik ist – auch, wenn Ihr Schöpfer als bekennender Faschist und Antisemit eine politisch äußerst problematische Figur war. Es ist dies der Zwiespalt, in dem man sich befindet, wenn man sich Casellas Werk nähert. Das sollte man immer im Hinterkopf behalten.
A. Casella – Orchesterwerke
Orchestra Sinfonica di Roma – F. La Vecchia
(2012) Naxos Katalog-Nr.: 8.573004 / EAN: 74731330047
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