Von fortgeschrittenem “Strawinskynismus” und Pathos-überladenen Oratorien
Sein wir mal ehrlich: „Neue“ beziehungsweise zeitgenössische E-Musik ist in den USA etwas völlig anderes, als hier in Europa oder gar in Deutschland. Bereits Anfang des Jahres hatte ich darauf in einem gesonderten Artikel hingewiesen, und inzwischen hat auch der Kultur-Ableger von Deutschlands Nachrichtenmagazin Nr. 1 („DER SPIEGEL“) den Schuss gehört: Während sich der Großteil der europäischen Komponisten nach wie vor komme was wolle hartnäckig an Zwölftönigkeit und Serialismus klammert, ist in den USA genau der gegenteilige Trend spürbar: Wer dort nicht neu-tonal oder gar neo-romantisch komponiert, gilt – hört, hört! – als altmodisch und zudem als praktisch nicht marktfähig.
Aus meiner persönlichen Sicht liegen die Amerikaner mit ihrem Trend auch gar nicht so verkehrt, sollte es doch die oberste Maxime sein, Neue Musik auch zu den Menschen zu bringen. Doch das, was manche US-Komponisten so vom Stapel lassen, ist manchmal ganz schön krudes Zeug.
Da gibt es Stücke, die platzen vor Pathos und Historienverehrung, andere sind programmatisch bis zur unfreiwilligen Komik, und wieder andere sind dem Jazz eigentlich näher als der Neuen Musik.
Letztendlich gibt es unter der neu-tonalen US-E-Musik aber auch viel Hörenswertes. Da gibt es zum Beispiel die sehr eigenständige und faszinierende Musik von Persönlichkeiten wie Libby Larsen (hier und hier gibt es Rezensionen zu CDs mit Larsens Musik) und Christopher Theofanidis (Theofanidis-CD-Rezension siehe hier). Es gibt aber auch Musik, die etwas weniger eigenständig daherkommt – und trotzdem einiges zu bieten hat.
Unter diesem „Etikett“ könnte man die jüngst in der herrlichen Naxos-Reihe „American Classics“ erschienene CD von Musik des Komponisten Adolphus Hailstork abheften.
Der Kompositionsprofessor aus Norfolk, Virginia kann sich damit rühmen noch bei der wohl wichtigsten Kompositionslehrerin des 20. Jahrhunderts studiert zu haben, nämlich bei Nadia Boulanger. Bekanntermaßen hatte Boulanger vor allem US-Komponisten in ihr Herz geschlossen und war unter anderem die Lehrmeisterin von solchen Stilikonen wie etwa Aaron Copland, Phillip Glass, Virgil Thomson und Roy Harris.
Die hier vorliegende Naxos-Novität hat mich am Anfang etwas erschreckt, glaubte ich mit dem Beginn von Hailstorks erster Sinfonie aus dem Jahr 1988 zunächst ein bislang verschollenes Strawinsky-Stück zu vernehmen. In der Tat grenzt es an Dreistigkeit, wie unverhohlen ähnlich das Hauptthema des ersten Satzes von Hailstorks nur 21 Minuten kurzer Sinfonie dem von Strawinskys Ballett „Jeu de cartes“ ist. Da Hailstork dafür keinerlei programmatische Hintergründe liefert (zumindest tut er das in dem von ihm selbst verfassten Booklet-Text nicht), kann man das wohl nicht ohne Kritik stehen lassen.
Wenngleich die gesamte Sinfonie immer wieder sehr in „strawinskische Gefilde“ abdriftet, ist sie ein hörenswertes und einfach schönes, leichtes Werk – perfekt für den gerade stattfindenden Sommer.
Ebenso leicht, aber deutlich Jazz-beeinflusster ertönen die „Three Spirituals“, die Hailstork 2005 für Sinfonieorcheter arrangierte.
So richtig spannend wird es in meinen Augen erst mit der sehr gut gelungenen sinfonischen Dichtung „An American Port of Call“ aus dem Jahr 1985. Hierbei hat der Komponist versucht, das geschäftige Treiben eines großen Freihafens (als Vorbild diente wenig überraschend der Hafen von Norfolk, Virginia) in ein rund achteinhalb Minuten langes Musikstück zu fassen. Und auch wenn das klingt, als sei es 1930 komponiert worden und nicht 1985, ist es doch ganz wunderbar instrumentiert und erinnert zuweilen gleichermaßen an Gershwins „An American in Paris“ wie an Honeggers „Maschinenmusik“ vom Schlage „Pacific 231“.
Die CD wird von einem knapp zwanzigminütigen für europäische Ohren dank seines triefenden Pathos kaum erträglichen Oratorium auf Texte des amerikanischen Nationalpoeten Walt Whitman beendet. Mal abgesehen von diesem letzten Stück auf der CD aus dem Jahr 2005 und der ebenfalls etwas arg bombastischen „Fanfare on Amazing Grace“ (2003) sind die vorgestellten Werke Adolphus Hailstorks hörenswerte Repertoirebereicherungen, die manchem Fan US-amerikanischer Musik Freude bereiten werden.
Wer auf Musik von zum Beispiel Ferde Grofé, George Gershwin oder auch Aaron Copland abfährt, kann mit dem Kauf dieser interessanten Zusammenstellung nicht viel falsch machen. Aber es muss auch betont werden, dass dies ein Nischenrepertoire ist, dass sein Nischendasein teilweise durchaus zurecht führt.
Das kümmert das Virginia Symphony Orchestra unter der wie immer hervorragenden Leitung JoAnn Fallettas überhaupt nicht – immerhin geht es hier um einen „Local Hero“ aus dem Staat, aus dem auch das Orchester stammt. Da blitzt und blinkt das Blech, da wird gefiedelt, dass sich die Balken biegen. Keine Frage: Das Virginia Symphony Orchestra zeigt sich hier erneut von seiner allerbesten Seite, musiziert auf absolutem Weltklasse-Niveau und breitet dem Komponisten Adolphus Hailstork einen samtweichen roten Teppich aus. Bessere Referenzeinspielungen der eigenen Musik als diese, kann sich doch ein Komponist wie Hailstork gar nicht wünschen.
A. Hailstork – Sinfonie Nr. 1 / An American Port Of Call / etc.
Virginia Symphony Orchestra & Chorus – JoAnn Falletta; Kevin Deas (Bariton)
(2012) Naxos Katalog-Nr.: 8.559722 / EAN: 636943972229
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