Mega-unbekannte Delius-Orchesterwerke mit Chor
Frederick Delius ist eine interessante Figur: In Großbritannien wird er – ähnlich wie Edward Elgar – als eine Art musikalischer Nationalheiliger gefeiert, als einer, der die britische Kunstmusik des 19. Jahrhunderts nicht nur maßgeblich mit beeinflusste, sondern vielmehr nachgerade aus der Taufe hob. Hierzulande ist von ihm nicht viel mehr bekannt als seine lautmalerische Komposition „On Hearing the First Cuckoo in Spring“.
Dabei hätten auch wir Grund genug, uns mit Frederick Delius zu beschäftigen. Delius war nämlich nicht nur Sohn deutscher Emigranten und sprach Zeit seines Lebens neben Englisch auch perfekt Deutsch, er war zudem auch als Literaturübersetzer tätig und übersetzte unter anderem eine Biographie eines farbigen US-amerikanischen Ex-Sklaven für den deutschen Buchmarkt.
Und hier schließt eine weitere interessante Episode aus Delius‘ Leben an: Mit 22 Jahren wurde der nämlich von seinem Vater nach Florida geschickt, um dort die Leitung einer Orangenplantage zu übernehmen. Dieser Versuch war zwar nicht von Erfolg gekrönt, doch er beeinflusste mittelbar Delius‘ Leben, indem er ihn mit den Melodien und Rhythmen der farbigen Sklavenarbeiter bekannt machte.
Dieser musikalische Einfluss brannte sich tief in das Schaffen des jungen Komponisten ein, der sich in den USA zudem als Geigenlehrer verdingte. Eines seiner frühen Meisterwerke ist die – inzwischen auch bei uns dank einiger sehr guter CD-Einspielungen bekannter gewordene – Florida-Suite. Nun legt das Naxos-Label eine CD mit Delius‘ weitestgehend vergessenen sinfonischen Werken „Appalachia“ und „Sea Drift“ vor. Besonders „Appalachia“ ist ein interessantes Stück.
Es entstand 1896, zu einer Zeit, als Delius schon nicht mehr in den USA weilte, sondern in Großbritannien bereits eine Laufbahn als Komponist eingeschlagen hatte. Das gut 35-minütige Variationsstück mit abschließendem Choral ist eine Variationenfolge über die Melodie eines Sklavenarbeiterlieds, das Delius womöglich zu seiner Zeit als Plantagenvorsteher in Florida gehört haben mag.
Das unverhohlen nostalgisch-elegische Werk knüpft musikalisch im Prinzip dort an, wo die Florida-Suite einst aufhörte und reiht sich somit ein in Delius‘ recht umfangreiche Sammlung eher ruhig-kontemplativer Beiträge. Dieser Mann war niemand, der gern mit Pauken und Trompeten den Konzertsaal zum Beben brachte. Dies zeigt sich auch deutlich in „Appalachia“ (der Name steht bei Delius übrigens für das alte Indianerwort, das ganz Nordamerika beschreibt, und nicht etwa für das nordostamerikanische Gebirge der Appalachen, aus dessen Dunstkreis üppigen Volksmusikerbes später Aaron Copland sein kerniges „Appalachian Spring“ stricken sollte).
Das Booklet dieser CD geht sogar so weit, „Appalachia“ als Delius‘ „Sinfonie aus der Neuen Welt“ zu beschreiben – eine Haltung, die ich nicht teilen kann. Nicht nur ist das Stück strukturell ganz einfach so weit von einer Sinfonie entfernt, wie man nur eben kommen kann (ganz im Gegensatz übrigens zu der wunderschönen „Florida-Suite“, die man durchaus als verkappte „Sinfonie aus der Neuen Welt“ werten könnte), sondern es würde uns auch von dem ungeheuren Sinngehalt wegführen, der sich offenbart, wenn man den Titel des Werks dem musikalischen Gehalt gegenüberstellt.
Letzterer ist ja durchgängig von der Melodie eines Sklavenlieds geprägt. Wenn es nun stimmt, dass „Appalachia“ in Delius‘ Sinn ganz Nordamerika bedeuten soll, dann impliziert dies, dass Delius hier ganz Nordamerika mit Sklaverei in Verbindung bringt. Neben musikalischer Verklärung also auch ein unerwarteter sozialkritischer Beitrag? Das sollte jeder selbst beim Hören dieser CD für sich erkunden.
Das zweite Stück, das wir hier nachhören können, ist auch sehr selten auf CD zu hören – und erst recht im Konzertsaal, wo Delius‘ Musik heute zumeist auf wenige, kurze Beiträge beschränkt ist. Es stammt aus dem Jahr 1904 und heißt „Sea Drift“. Beinahe jeder britische Komponist seit Elgar hat mindestens ein Stück über das Meer komponiert – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass das Meer für jeden Engländer binnen höchstens einer bis eineinhalb Stunden Zugfahrt erreichbar ist.
Delius beginnt seinen Beitrag mit einem Beispiel für die Lautmalerei, für die er so bekannt ist. Er lässt sein Orchester die sanfte Bewegung der Wellen des Meeres nachahmen. Der amerikanische Einfluss beschränkt sich hier auf die Verwendung von Texten aus dem in der gesamten anglophonen Welt bibelähnlich verehrten Gedichtband „Leaves of Grass“ von Walt Whitman. Das ist insofern interessant, als einer von Delius‘ Nachfolgern auf dem Gebiet der Komposition – nämlich der weltweit bedeutende englische Sinfoniker Ralph Vaughan Williams – für seine „Sea Symphony“ nur sechs Jahre nach Delius‘ „Sea Drift“ dieselben Whitman’schen Verse nutzte. Besteht da etwa ein Zusammenhang? Das wäre in der Tat einmal eine interessante Forschungsaufgabe für die Musikwissenschaft, denn bislang findet sich hierzu nirgends ein Hinweis.
„Sea Drift“ als Komposition ist indes eher ernüchternd und stellt nicht gerade den „bestmöglichen Delius“ dar.
Die Einspielungen durch das von Stefan Sanderling (Sohn des legendären Dirigenten Kurt Sanderling) souverän geleiteten Florida Orchestra sind sehr gut. Das Orchester entpuppt sich als äußerst qualitätvolles Ensemble, dass die subtilen dynamischen Akzentuierungen der Delius’schen-Musik überzeugend umzusetzen versteht. Ebenso überzeugen kann der Master Chorale of Tampa Bay.
Leider ist aber Bariton-Solist Leon Williams keine geglückte Wahl. Mit seinem schnell „rotierenden“ Dauer-Vibrato verleiht er der Musik eine opernhafte Unruhe, die schnell und nachhaltig an den Nerven zerrt.
Der Aufnahmeklang ist derweil beeindruckend gut, wenngleich nicht vollends „state of the HiFi-art“. Bei „Sea Drift“ wirkt Solist Leon Williams allerdings im Vergleich zu Orchester und Chor viel, viel zu laut abgemischt.
F. Delius – Appalachia / Sea Drift
The Florida Orchestra – S. Sanderling
(2012) Naxos Katalog-Nr.: 8.572764 / EAN: 747313276479
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