Zum Inhalt

Schlagwort: Johann Sebastian Bach

Fünf Favoriten – (m)eine persönliche Top 5

2021 war, wie bereits das Jahr zuvor, kein gewöhnliches Jahr. Es startete mit der Hoffnung auf ein baldiges Ende der Covid-19-Pandemie durch die jetzt verfügbaren Impfstoffe, es endet mit der Erkenntnis, dass nicht einmal die dritte Booster-Impfung die pandemische Lage beendet wird. Dazwischen gab es alles: Lockdowns, Öffnungen, steigende und sinkende Inzidenzen, Hoffen, Bangen, bestätigte Befürchtungen und Enttäuschungen.

Eleonor Bindman & Jenny Lin: Johann Sebastian Bach – The Brandenburg Duets (arr. Eleonor Bindman)

Von Johann Sebastian Bach sind weit über 1000 Werke bekannt. Ergibt es da wirklich Sinn, Bearbeitungen aufzunehmen oder gar neue zu erstellen? Die überraschende Antwort lautet: ja, sicher! Man verstehe mich nicht falsch: Natürlich gibt es jede Menge völlig sinnfreier, schlechter oder zumindest mittelmäßiger Bearbeitungen und Transkriptionen, die offenbar keinen anderen Sinn haben, als die Eitelkeit des Bearbeiters zu befriedigen (oder eines Interpreten, der unbedingt Bach auf seinem Instrument spielen will). Das bedeutet aber im Umkehrschluss nicht, dass es nicht überaus wertvolle und aufregend spannende neue (und historische) Bearbeitungen gibt, die es wirklich wert sind, entdeckt zu werden und die Bachs Œuvre durchaus bereichern.

Die lettisch-amerikanische Pianistin Eleonor Bindman hat eine neue Fassung der Brandenburgischen Konzerte zu vier Händen geschrieben, weil sie mit der von Max Reger erstellten nicht zufrieden war. Bei Reger besteht eine Diskrepanz zwischen dem hohen Primo-Part und dem tiefen Secondo-Part, der weite Teile der Polyphonie der Werke regelrecht verschluckt. Bindmans oberstes Ziel bei ihrer Transkription war es, eine Balance zwischen den beiden Parts herzustellen und somit Bachs polyphone Kontrapunktik klar und transparent abzubilden. Sie schreibt dazu im Booklet: »Mein Hauptziel war eine Übertragung, die die Polyphonie betonte. Dabei versuchte ich mir vorzustellen, wie Bach wohl die Partitur aufgeteilt hätte, wenn er vierstimmige Inventionen hätte arrangieren wollen.«

Zhu Xiao-Mei: Johann Sebastian Bach – The French Suites

In unserem eurozentristischen Weltbild verdrängen wir oft, dass das, was wir „westliche Musik“ (ob ihrer Provenienz) nennen, in Wirklichkeit längst universelle Musik geworden ist. Die Werke der großen Komponisten Bach, Beethoven, Mozart usw. nur durch die nationale Brille sehen zu wollen, wäre zu kurzsichtig. Denn so wie Bach und alle anderen Komponisten stets den Einflüssen anderer Kulturen ausgesetzt waren, so beeinflusst die Musik die Menschen weit über die Grenzen hinweg. Die besten Interpreten, die man einst in der Heimat des Komponisten suchte, kommen heute aus aller Herren Länder: Bach-Spezialisten aus Japan, Beethoven-Experten aus Argentinien, Mozart-Interpreten aus Belgien, Wagner-Sänger aus Südkorea. Die Musik ist heute das, was sie von der Anlage immer war: wahrhaft international.

Als die chinesische Pianistin Zhu Xiao-Mei in die Wirren der maoistischen Kulturrevolution geriet, war sie jung, zu jung, um als „Wunderkind“ keinen Schaden zu nehmen. Sie bestand mit sechs Jahren die Aufnahmeprüfung zum Konservatorium, gab mit acht Jahren ihr erstes Konzert. Musik, speziell „westliche Musik“, galt aber damals in China als „bourgeois“, der Bauernschaft unnütz. Die junge Xiao-Mei wird von der Propaganda angesteckt eine glühende Rotgardistin und sie gerät in die Mühlen der Kulturrevolution. Sie bricht ihre Ausbildung ab, denunziert Lehrer und landet schließlich selbst in einem Umerziehungslager. Genau dort, zwischen harter Arbeit, psychologischer Gehirnwäsche und politischer Indoktrinierung entdeckt sie ihre Liebe zur Musik wieder, speziell zu Bach. 1974 kehrt sie nach Peking zurück, gibt 1976 wieder Konzerte und flieht 1980 über Hongkong in die USA, vor dort aus geht sie 1985 nach Frankreich. Ihre Autobiografie „Von Mao zu Bach. Wie ich die Kulturrevolution überlebte“ liest sich wie ein Roman und doch ist es die wahre Lebensgeschichte der Pianistin.

Julia Fischer: Johann Sebastian Bach – Sonatas and Partitas BWV 1001–1006

Als Julia Fischer 2004 sämtliche Sonaten und Partiten für Violine solo (BWV 1001–1006) von Johann Sebastian Bach in der Doopsgezinde Singelkerk in Amsterdam für das audiophile Label Pentatone aufnahm, war sie gerade einmal 21 Jahre alt. »Geduld war selten meine Stärke«, meint sie dazu lakonisch im Booklet und fügt hinzu: »Schließlich hatte ich bereits seit einigen Jahren auf eine Aufnahmegelegenheit für diese Werke gewartet.«

Kuniko: Bach – Solo Works for Marimba

Die japanische Perkussionistin Kuniko (ihren Nachnamen Kato führt sie als „Stagename“ nicht) gehört zu einer neuen Generation von Künstlern und Künstlerinnen, die Musik außerhalb der gängigen Schubladen begreifen und sich sowohl dem Gehalt der Musik verpflichtet sehen, wie der Möglichkeiten der künstlerischen Umdeutung und Umformung. Ihr Instrument, die Marimba, ist keines, für das es ein großes klassisches Werk gäbe. Die Notwendigkeit sich ein eigenes Repertoire zu schaffen, sprich zu transkribieren, ist also fast immer der Ausgangspunkt im schöpferischen Prozess der Japanerin.

Ensemble L’Arte della Fuga: Johann Sebastian Bach – Die Kunst der Fuge – in der Fassung von Hans-Eberhard Dentler

Nahezu jedes unvollendete Werk eines großen Meisters birgt ein Geheimnis in sich: Wie hätte der Komponist das Stück zu Ende geführt und – im Falle „Der Kunst der Fuge“ Johann Sebastian Bachs – für welche Besetzung ist das Werk intendiert? Bereits kurz nach dem Tode Bachs begannen die Spekulationen und sind bis heute Gegenstand akribischer Studien und mitunter kontrovers geführter musikwissenschaftlicher Diskussionen. Eine abschließende Antwort kann es natürlich nicht geben – das liegt in der Natur der Dinge.

Dinu Lipatti Collection – 100th Anniversary Edition

Pianistischen Legenden begegne ich immer mit einer Mischung aus Respekt (vor dem Künstler und seinen unbestrittenen Verdiensten) und einer gewissen Skepsis. Denn allzu oft, so scheint mir, liegen musikalische Wahrheit und verklärende Dichtung weit auseinander. Die pianistischen Ikonen der Vergangenheit sind, nach heutigen technischen und interpretatorischen Maßstäben gemessen, oft auch nur „sehr gut“ und keine Götter. Sicher, sie waren allesamt ihrer Zeit voraus, aber ihre Überhöhung und Glorifizierung macht es den aktuellen Pianisten-Generationen schwer. Es ist fast so, wie bei der Fabel vom Hasen und dem Igel. Wo auch immer der junge Interpret sich auch hinwendet, scheint eine „Legende“ aufzuspringen und „Ich bin schon hier“ zu rufen. Adieu Standard-Repertoire.

Freilich: Es gibt Legenden der Vergangenheit, die, auch objektiv betrachtet, Einzigartiges geschaffen haben. Der Rumäne Dinu Lipatti (1917–1950) war (und ist) so eine Ausnahmeerscheinung. Abseits der Mythen (und Mystifizierung) des jungen, genialen, todkranken Pianisten, der die Musik der jungen, dem Tod geweihten Romantiker, wie Schumann und Chopin so einfühlsam wie kein Zweiter spielen konnte, war Lipatti nicht nur ein Jahrhunderttalent, sondern ein technisch bemerkenswert reifer, vollständiger Pianist. Seine Fähigkeiten als Dirigent und Komponist werden in nicht unerheblichen Maße dazu beigetragen haben, ihn unter den großen Pianisten des 20. Jahrhunderts hervorstechen zu lassen.

30 Jahre Naxos – Die Jubiläumsedition

30 Jahre Naxos sind wahrlich ein hervorragender Grund, um eine Jubiläumsedition herauszugeben. 1987 von Klaus Heymann gegründet, revolutionierte das Label die Klassikwelt nachhaltig. Zum einen machte Naxos das Standardrepertoire in hochwertigen Aufnahmen einer breiten Käuferschicht dank deutlich niedriger Preise zugänglich, zum anderen bot die Plattenfirma von Anfang an jungen, talentierten Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform, um auf sich aufmerksam zu machen, auch wenn sie nicht in den (selbst ernannten) Wiegen der westlichen Kultur aufgewachsen waren. Bei Naxos zählte von Anfang an das Talent, nicht die Herkunft des Künstlers. Im verstaubten Klassikbetrieb war dies in den 1980er Jahren keine Selbstverständlichkeit. Das größte Verdienst des Labels war es allerdings, dass es sich nicht auf das hinlänglich bekannte Repertoire beschränkte, sondern bald auch Musik von (im Westen) unbekannten Komponisten aufnahm. Die „Local Heroes“ der vergangenen und gegenwärtigen Komponistenszene erhielten endlich eine internationale Plattform mit modernen State-of-the-Art-Aufnahmen. Zeitgenössische US-amerikanische Musik, nordische Romantik, osteuropäische Musik der Moderne, Raritäten und die Perlen vergessenen Meister der Vergangenheit: Der Naxos-Katalog wuchs und gedieh und setzte auf Repertoirevielfalt statt abgegriffenem Einerlei.