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Stephane Ginsburgh: Anthony Burgess – The Bad-Tempered Electronic Keyboard, 24 Preludes and Fugues

Kennen Sie Anthony Burgess? Natürlich. Der Autor von „Uhrwerk Orange“ (im Original: „A Clockwork Orange“, 1962) gehört zu den meistgelesenen Autoren des ausgehenden 20. Jahrhunderts, auch wenn kein anderes seiner Bücher nur annähernd an den Erfolg der Dystopie um Alex und seine Droogs anknüpfen konnte. Die Verfilmung von Stanley Kubrick (1971) tat ihr Übriges. Viel unbekannter als „der Schriftsteller Burgess“ ist „Burgess, der Komponist“, obwohl es sich dabei um ein und dieselbe Person handelt. Neben seiner schriftstellerischen Arbeit hat er immer auch komponiert. In 60 Jahren produktiven Lebens entstanden über 250 Werke. »Ich wünschte, die Leute würden mich als Musiker sehen, der Romane schreibt und nicht als Romanautor, der Musik nebenbei schreibt« formulierte Burgess sein Selbstverständnis (vielleicht etwas überspitzt und nicht ohne Selbstironie).

Burgess stammte aus einem musikalischen Haushalt: Seine Mutter war Sängerin und Tänzerin (als „the Beautiful Belle“) in den Music-Halls des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sein Vater war Pianist, zunächst in denselben Music-Halls wie seine Ehefrau, später begleitete er Stummfilm-Aufführungen in den Kinos. Anthony Burgess selbst arbeitete als Pianist in den 1940er Jahren und versuchte bis Mitte der 1950er Jahre seine Karriere als Komponist zu lancieren. Als dies scheiterte, wandte er sich „vorläufig“ der Schriftstellerei zu – mit deutlich mehr Erfolg – um ab Mitte der 1970er Jahre wieder verstärkt zu komponieren. So schrieb er 1979 ein Violinkonzert für Yehudi Menuhin, mit dem er befreundet war und 1985 „The Bad-Tempered Electronic Keyboard“, der Titel (»die schlecht-temperierte (übel gelaunte) elektronische Klaviatur«) offensichtlich eine ironische Verneigung vor seinem Idol Johann Sebastian Bach.

Der Autodidakt komponierte „The Bad-Tempered Electronic Keyboard“ anlässlich des 300. Geburtstags des Eisenacher Komponisten mithilfe eines Apple Computers und eines Casiotone 701 Synthesizers binnen weniger Wochen, laut Manuskript zwischen dem 23. November und dem 13. Dezember 1985. Die Flüchtigkeit ist hie und da, seien wir ehrlich, dem Ergebnis anzuhören. Bach war wohl nicht der einzige Pate seines Zyklus’. Da Schostakowitsch explizit zu seinn zeitgenössischen Lieblingskomponisten zählte, ist es mehr als wahrscheinlich, dass auch Dmitri Dmitrijewitschs „24 Präludien und Fugen“ Burgess im Kopf umherschwirrten, als er seinen eigenen Klavierzyklus in allen Dur- und Molltonarten, chromatisch aufsteigend angeordnet von C-Dur bis h-Moll, schrieb. „The Bad Tempered“ Zykus ist mal kontrapunktisch streng, mal modern und kühn, mal sind Einflüsse aus dem Jazz zu erkennen, mit dem er einst als Pianist seine ersten Brötchen verdiente. „The Bad-Tempered Electronic Keyboard“ ist ein vielleicht kurioses, aber letzten Endes kein belangloses Amateurwerk, sondern ein zumindest stellenweise kunstvoll kontrapunktisches, originelles und immer wieder überraschendes Werk eines talentierten Amateurs.

Mit seinen Aufnahmen der Werke von Erik Satie, Sergei Prokofjew, Jean-Luc Fafchamps, Renaud de Putter und Morton Feldman hat sich der belgische Pianist Stephane Ginsburgh einen exzellenten Ruf als leidenschaftlicher Fürsprecher des modernen Repertoires abseits der klassisch-romantischen Tradition erworben. Ginsburgh spielt Burgess mit derselben Ernsthaftigkeit und demselben Respekt, den er einem „professionellen“ Komponisten entgegen bringen würde. Sein Spiel ist strukturiert und klar, selbst in den turbulentesten Momenten. Wenn Burgess alle Ironie beiseitelässt und sich allein auf Bachs Kontrapunkt besinnt, etwa im Präludium und Fuge Nr. 12 in H-Dur, gelingt es Ginsburgh, der Musik eine Strahlkraft abzugewinnen, die erahnen lässt, wozu der Komponist in der Lage gewesen wäre, wenn er die Musik ernsthaft in den Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens gestellt hätte.

Anthony Burgess war alles andere als ein „One Trick Pony“, er war ein versierter Schriftsteller und ein ambitionierter (Amateur-)Komponist, der sein musikalisches Potenzial vielleicht nie ganz ausschöpfen konnte. Aber „The Bad-Tempered Electronic Keyboard“ hat genügend Momente um klarzumachen, dass Burgess, vielleicht mit formaler Ausbildung, etwas mehr Geduld, Sorgfalt und Erfahrung, auch als Komponist eine wichtige Stimme seiner Epoche hätte sein können. Bereits in dieser Form ist der Zyklus eindrucksvoll genug.

Auf naxos.de findet man verschiedene empfehlenswerte digitale und physikalische Bezugsquellen.

Published inAlben vorgestellt

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