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Schostakowitsch de-konstruiert – die musikalische Sichtweise des Jerusalem Quartetts hinter den Eisernen Vorhang.

 

“Sie alle sind großartig, ein jeder von ihnen,” meint Alexander Pavlovsky, der erste Geiger des Jerusalem Quartetts als er gefragt wird, ob er Favoriten unter den insgesamt 15 Streichquartetten hat, die sich wie ein Faden durch das ganze Werk von Schostakowitsch ziehen, welches, wie kaum ein anderes, seinen Platz und seine Zeit in der Geschichte widerspiegelt. Die Mitglieder des Jerusalem Quartetts, die alle über starke Wurzeln im russischen Erbe verfügen, können das sicherlich verstehen. “Selbst wenn man nichts vom Hintergrund wissen würde, vor dem diese Musik entstand, wäre sie aufwühlend. Aber er gibt einem einen Einblick in diesen spezifischen historischen Zusammenhang, etwas, worauf man sich beziehen kann, indem wir oft die traditionellen Strukturen in kleine Motive dekonstruieren, die er dann in einer sehr modernen und individuellen Art und Weise verwendet.” Sagt Ori Kam, der sich der Gruppe im Jahre 2011 anschloss und den bei der Gründung beteiligten Bratschisten Amitai Grosz ersetzte. Im Gegensatz zu Pavlovsky hat Kam persönliche Vorlieben unter den Schostakowitsch Quartetten: “Dies ist vielleicht das perfekteste Quartett,” sagt er über das Streichquartett Nr. 7 in fis Moll (Opus 108). Quartett Nr. 7 wurde im Februar und März 1960 zur Erinnerung an seine Ehefrau komponiert, die im Dezember 1954 starb; das Stück wurde vom Beethoven Quartett uraufgeführt, mit dem Schostakowitsch Zeit seines Lebens eng zusammengearbeitet hatte.  “Nr. 7 fasst irgendwie alle Elemente zusammen, die Schostakowitsch in den Quartetten 1-6 erkundet. Es ist zugleich von der Sprache her modern, aber doch klassisch und kompakt in seiner Struktur und in der Weise, wie es das thematische Material behandelt.” Pavlovsky gibt zu, das Quartett Nr. 6 zu mögen und unter Hinweis auf dessen “Frühling, Blumen, positive Emotionen …und viele schöne Solos.” Also gibt es doch Favoriten mit Nr. 6 als einem der Lieblingsstücke für das Programm mit seinen cleveren Cello Auflösungen, die jeden Satz mit dem gleichen Motiv beenden.

[/caption]Schostakowitsch war ein Hauptbestandteil des Repertoires dieser jungen Kammermusikgruppe, die sich aus Musikern zusammensetzt, die sich 1993 zusammengefunden haben, als sie an der Jerusalem Rubin Akademie (gegründet von Isaac Stern) unter der Anleitung des rumänischen Violinisten Avi Abramovich studierten. Von Anfang an war es klar, dass ein enormes individuelles Talent eine Gruppendymanik entfacht hatte, die weit über die einzelnen Bestandteile hinausging. Dank außergewöhnlicher Umstände wurde die Erlaubnis gewährt, die Einheit der jungen Musiker aufrechtzuerhalten, die – da in Israel geboren – sich für zweieinhalb Jahre für die Israelischen Verteidigungskräfte verpflichten mussten; die Musiker wurden zusammengehalten und waren somit in der Lage, ihre einzigartige Begabung weiterzuentwickeln.

Das außergewöhnliche Quartett hat für Harmonia Mundi Tourneen und Aufnahmen durchgeführt und wurde von Anfang an mit einzigartigem Erfolg belohnt. Violist Ori Kam hat all seine Musikerkollegen im Quartett schon früh in seiner Karriere bei gemeinsamen Konzertauftritten kennengelernt, aber er war vor allem mit dem Cellisten der Gruppe Kyril Zlotnikov eng verbunden. Beide Musiker betreuen die Viola/Cello Sektion von Daniel Barenboims West-Östlichen Divan Orchester , die kulturelle Überbrückung des Nahost-Konflikts durch musikalische Auftritte unterstützt.

Als Israelis haben die Mitglieder des Jerusalem Quartetts ihren Anteil an Erfahrungen von antisemitischer/anti-israelischer Aggression von vehementen Kräften, die keine Gelegenheit auslassen, ihre verdrängte Wut zu äußern. Dieser Umstand erscheint als besonders unfair angesichts der Tatsache, dass alle vier Musiker sehr unterschiedliche politische Standpunkte vertreten. Sie alle sind sich aber darin einig: “Wir sind Musiker, keine Politiker.”

Als Kam sich nach einem kurzen Intermezzo bei den Berliner Philharmonikern sich dem Quartett anschloss, hatten zuvor die anderen Guppenmitglieder bereits den ganzen Schostakowitsch Zyklus gespielt. Kam hatte nur einige der Quartette gespielt, bevor er dem Jerusalem Quartett beitrat und gibt zu, nicht von Anfang an ein großer Schostakowitsch Fan gewesen zu sein: “Es gibt keine Frage, dass er einer der größten Talente in der Welt der Musik war, aber ich empfand, dass es da etwas Manipuliertes in seiner Musik gab, etwas das fast keinen Respekt vor seinem eigenen Talent hatte. Er konnte die perfekte Fuge schreiben – aber stattdessen gab es eine Reaktion wie: ‘Sie möchten eine Fuge – hier, ich werde ihnen eine Fuge geben!!’ Ich empfand Unbehagen bzgl. seines Bedürfnisses die Parteimitglieder zu beschwichtigen, eine erzwungene idealistische und heroische russische Identität zu schaffen und dabei billig zu werden. Ich mochte einen direkten und dynamischen Ansatz und hier empfand ich etwas Gewundenes.

Nach dem Konzert – in der Alice Tully Hall
Das Jerusalem Quartett (von vorne nach hinten– Kyril Zlotnikov (Cello), Ori Kam (Viola) Alexander Pavlovsky (erste Geige), Sergei Bresler (zweite Geige)) Foto: Alex Broede

“Dennoch – und das ist der Vorteil, unterschiedliche musikalische Elemente in so einem so weitreichendem Rahmen zu untersuchen, wie dem Zyklus von all seinen Quartetten – bekommt man eine andere Allgemeinperspektive. Während ich einige einzelne Schostakowitsch Quartette in unterschiedlichen Programmen gespielt habe, mag ich nicht immer den intuitivsten Ansatz gehabt haben, es stellt sich heraus, dass die Passagen, die am problematischsten zu sein schienen, auch die interessantesten Elemente beinhalten. Man fängt an, die sich wiederholenden Elemente zu erkennen, die ihre akademische Qualität verlieren und an Unmittelbarkeit gewinnen. So funktioniert großartige Musik – das Violinen Rezitativ kommt wieder in der Cello Passage zum Vorschein… man greift die Idee auf und erkundet sie in einem anderen Kontext.”

Foto: Ori Kam vom Jerusalem Quartett zeigt und erzählt etwas der Viola-Spielerin Maria Semes, eine Studentin an der Juilliard School.Während dem ersten von vier aufeinanderfolgenden Sonntagskonzerten im März, der ausverkauften Veranstaltung für die Kammermusikgesellschaft an der ‘Alice Tully Hall’, war sicherlich die perfekte Klanghomogenität etwas, was das Publikum die gesamte Aufführung des Schostakowitsch Streichquartetts-Zyklus hindurch hören konnte. Das musikalische Erlebnis fand seinen Höhepunkt mit dem nüchternen, im Jahre 1944 geschriebenen letzten Quartett Nr. 15 in E Moll, Opus 144, das möglicherweise in der Tradition, die vom Borodin Quartett begründet wurde, als Requiem konzipiert worden war; es wurde vollständig in der abgedunkelten Halle aufgeführt.

Im Laufe der Meisterklasse, die von den vier Musikern als Teil ihrer Vorstellung am 18. März angeboten wurde, wurde offensichtlich, dass das Geheimnis hinter dem ausgezeichnetem Klang des Jerusalem Quartetts darin besteht, dass jedes Detail im Aufbau ihres Programms aufs Genaueste abgestimmt ist: “Die Tiefe der Interpretation, wenn man Dinge erfühlt …das ist immer noch ganz anders, wenn jemand versteht, warum das so ist. Zum Beispiel das Crescendo hier muss gleichmäßig aufgebaut werden und es wird unweigerlich mit der Zeit kommen und Erregung und Spannung erzeugen. Das Publikum ist viel klüger als ihm einige von uns zugestehen; sie werden einen Zusammenhang herstellen, jedes Mal wenn das Thema wieder aufkommt. Die wichtigste Sache in der Kammermusik ist es, dass die vier wissen, was die anderen denken.

„Wir diskutieren viel während der Proben und finden normalerweise einen gemeinsamen Nenner. Oft sind unterschiedliche Meinungen nuanciert und nicht unbedingt so unterschiedlich, zum Beispiel wenn es um Tempoangaben geht, kann man ein langsameres Tempo mit einem fließenderem Gefühl oder ein Schnelleres [Tempo] mit einem eher statischen Gefühl ausführen. Wenn man dem auf den Grund geht, was der andere sich innerhalb der Musik vorstellt, stellt sich das als nicht so entgegengesetzt heraus,“ sagt Kam und führt fort:

„Unsere Arbeit besteht immer darin, unsere vier Stimmen unterschiedlich zum Ausdruck kommen zu lassen und das kann nicht nur durch die Lautstärke geschehen: Es muss Teil eines größeren Gebildes sein, die nach innen Kontur gibt, um die harmonische Struktur besser zu zeigen. Das ist der ständige Kampf: Gibt man zu viel Details, verliert man sich – gibt es zu viel Struktur – ist es langweilig.”

Das Jerusalem Quartett hat ganz klar vollständige Ausgewogenheit erzielt, indem es individuelle Kunstfertigkeit angesichts einer lebendigen Gruppendynamik bewahrt.

Ihre neue Aufnahme von Brahms Klarinetten- Quintett mit der Klarinettistin Sharan Karn wird im Mai erhältlich.

Ilona Oltuski

Published inGrenzüberschreitend

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